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eine neue familie

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schneeeule
Tunnelexperte


Beiträge: 2296


New PostErstellt: 07.11.09, 19:41  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Bis jetzt ist die Geschichte noch ganzschön traurig.
Aber ich hab sie ja schon etwas weiter gelesen, im Fanfiktion.net. Da schau ich jeden Tag nach ob es weiter geht.

Jedenfalls ist sie schön zu lesen




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sheena
Tunnelexperte


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New PostErstellt: 08.11.09, 12:38  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

ich fürchte, sie wird auch nicht sehr viel lustiger werden.  tut mir leid. aber vllt. fällt mir ja später noch was fröhlicheres ein.

4. Kapitel – Auf der Suche nach Wärme

Stella wurde durch ein ungewohntes Geräusch geweckt. Da war noch etwas anderes als nur das inzwischen vertraute Knacken der Dampfleitungen, das Tropfen des Wassers sowie das Klopfen an die Rohre, von dem sie bisher nicht herausgefunden hatte, wodurch es verursacht wurde. Es schien ihr, als wäre es eigentlich gar kein richtiges Geräusch, sondern mehr eine Luftbewegung gewesen. Oder ein Traum? Sie blieb bewegungslos liegen und lauschte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Ihr Herz klopfte rasend, als hätte sie gerade einen Sprint hinter sich. Ganz vorsichtig tastete sie nach der Eisenstange, die sie immer neben sich bereit liegen hatte. Nach zehn atemlosen Minuten, in denen sie nichts weiter als Knacken, Klopfen, Zischen sowie das stete leise Tröpfeln wahrnahm, gab sie ihre angespannte Haltung auf und setzte sich tief durchatmend auf. Langsam beruhigte sich ihr Herz wieder. Stella suchte nach den Zündhölzern, fand sie am Kopfende und machte Licht. Sie schlich an die Tür, öffnete sie einen winzigen Spalt und lauschte noch einmal angestrengt. Alles war ruhig. Nichts schien verdächtig. Stella atmete erleichtert auf, schüttelte über sich selbst den Kopf und schloss leise wieder die Tür. Wie spät war es eigentlich und wie lange hatte sie geschlafen? Sie kramte in ihren Manteltaschen nach der alten Armbanduhr. Das Uhrglas war auf der Flucht zerbrochen, aber ansonsten funktionierte sie noch. Es war gerade 5.45 Uhr. Noch viel zu früh zum Aufstehen! Aber an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Doch oben war es noch dunkel und es würde sich nicht lohnen, sich schon wieder für Nichts und wieder Nichts kalte Füße zu holen. Nicht einmal Mr. Chan würde jetzt schon geöffnet haben. Was sollte sie also dort? Hier unten war es allerdings im Moment auch nicht gerade warm. Und da sie so aus dem Schlaf aufgeschreckt war, zitterte sie am ganzen Körper.  Es war dummerweise auch kein Brennholz mehr in dem Kämmerchen zu finden, denn das hatte sie am Abend zuvor aufgebraucht. 

Aber Stella fiel etwas anderes ein: der Plastiksack in der Ecke! Er war voll mit alten Bekleidungsstücken, die sie sich vorgestern von einigen Müllplätzen zusammengesucht hatte. Zu Beginn ihrer Zeit als freiwillige Obdachlose war es ihr sehr schwer gefallen, getragene Kleidung anzuziehen. Doch was blieb ihr weiter übrig? Als sie floh, war Sommer gewesen und sie hatte damals nur ein leichtes Kleid und Pumps getragen. Aber in den Kellern, in denen sie sich versteckt hatte, war es auch bei 32° C ziemlich frisch gewesen. Als die Nächte dann anfingen, empfindlich kalt zu werden, musste sie sich überwinden. Dazu kam noch, dass mit der Zeit Schmutz und Schweiß deutliche Spuren auf dem Kleid hinterlassen hatten. Es war einfach für ein Leben in den Tunneln nicht gemacht. Stella hatte begonnen, sich auf der Suche nach geeigneterer Kleidung auf den Hinterhöfen herumzudrücken und war ziemlich schnell fündig geworden. Sie staunte, was die Leute alles so wegwarfen und wurde sich bewusst, dass sie bis vor ein paar Wochen auch dazugehört hatte. Mittlerweile hatte sie herausgefunden, auf welchen Höfen und Müllplätzen die brauchbarsten Dinge zu finden waren. Allerdings musste man entweder schnell laufen können und durfte keine Angst vor Hauswarten und Hunden haben oder man musste hübsch sein und gut schmeicheln können. Letzteres setzte sie des Öfteren ein, um einige der Hausmeister dazu zu bringen, ihr das eine oder andere Stück zu überlassen.  

Stella konnte sich erinnern, letztens eine alte Jogginghose gefunden zu haben. Sie musste in diesem Sack sein! Wieso bin ich nicht gestern schon auf die Idee gekommen? überlegte sie und wühlte in Kleidern herum. Und tatsächlich – da war das ausgebeulte Ding. Sie war unten an den Hosenbeinen etwas ausgefranst und roch muffig. Aber Stella hatte es sich schon längst abgewöhnt, in Bezug auf Aussehen und Geruch der Kleidung wählerisch zu sein. Diesen Luxus konnte man sich in so einer Situation einfach nicht leisten, obwohl sie immer bemüht war, halbwegs sauber zu wirken. Sie zog die Hose über die fadenscheinigen Strümpfe und sorgte mit einem Bindfaden dafür, dass das viel zu große Kleidungsstück nicht sofort wieder von ihrem zierlichen Körper rutschte. Stella sah an sich herunter und schüttelte den Kopf. Das war mit Sicherheit ein lächerlicher Anblick. Egal, unter dem langen Mantel würde es niemand sehen. Es achtete ja sowieso niemand auf sie. Die Zeiten, in denen sie mit Schönheit und Eleganz die Blicke auf sich zog, waren längst vorbei. Aber sich wie ein Eskimo einzumummeln konnte keine endgültige Lösung sein. Sie musste unbedingt wieder auf die Suche nach Brennholz gehen. Nicht nur, um sich wärmen, sondern auch, um wenigsten Wasser heißmachen zu können. Außerdem konnte sie dann auch Petroleum sparen. 

Sie hängte sich eine alte Schultasche über die Schulter, griff ihre Lampe sowie die Eisenstange und verließ den kleinen Verschlag. Da in Richtung Ausgang schon alles Holz, was dort herumgelegen hatte, aufgebraucht war, wollte Stella es diesmal in der anderen Richtung versuchen. Sie verspürte nämlich nicht die geringste Lust, eine halbe Stunde bis an die Oberfläche zu wandern und sich für die Holzsuche der Kälte auszusetzen. Allerdings kannte sie sich in den tieferen Gängen noch nicht so gut aus. Aber ihr fotografisches Gedächtnis und die Eisenstange, mit der sie Zeichen in den Boden ritzen konnte, würden ihr dabei helfen, wieder zurückzufinden. So machte sie sich also vorsichtig und neugierig auf den Weg.

Die junge Frau war noch gar nicht lange unterwegs, da fand sie auch schon, wonach sie suchte: einen Stapel alter, unbrauchbar gewordener Holzkisten, morsch und teilweise schon zerbrochen. Das war mindestens Vorrat für eine Woche! Da würde sie wohl einige Mal hin- und her laufen müssen, um das alles in ihr Versteck zu bringen. Stella lächelte und machte sich daran, ein paar Kisten zu zertreten, um das Material besser transportieren zu können. Sie stopfte, soviel sie tragen konnte, in die alte Tasche und machte sich auf den Rückweg. 

Als sie sich ihrer Unterkunft näherte, beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl, eine seltsame Beklemmung, die sie sich nicht erklären konnte. Es war die gleiche ungute Ahnung, die sie damals empfand, als sie feststellte, dass David dahinter gekommen war, dass sie seine miesen Geschäfte durchschaut hatte. Noch bevor er sie zur Rede gestellt hatte, wusste sie, dass er es wusste.  Zu allem Überfluss kannte er auch ihre Fähigkeit, alles, was sie jemals gesehen hatte, haarklein wiedergeben zu können. Er war einst stolz darauf gewesen und hatte immer gern mit der Gabe seiner jungen Frau angegeben. Bis sie ihm unbequem wurde. Da fing er an, sie zu bedrohen und diesen Drohungen mit körperlicher Gewalt Nachdruck zu verleihen. Monatelang hatte sie es ertragen, ertragen müssen, weil sie niemanden hatte, an den sie sich hätte wenden können. Außerdem war sie der Meinung gewesen, dass auch ihr Sohn Schutz vor dem Vater brauchte, bis sie bemerkte, dass der 13-jährige Jared mit Haut und Haaren für seinen Dad eingenommen war. Er vergötterte David, folgte ihm auf Schritt und Tritt, ahmte ihn nach und tat alles, um ihm zu gefallen. Als der Junge sah, wie sein Vater sie behandelte, dauerte es nicht lange und er hatte allen Respekt vor ihr verloren. Der Teenager fing an, mit ihr in dem gleichen verachtenden Ton zu reden und sie bewusst zu beleidigen wie es sein Vater tat.  Der gab ihm dabei auch noch Rückendeckung und entschuldigte es mit der Pubertät. Eines Tages vergriff sich Jared an ihrer Handtasche, um sich die Kreditkarte zu nehmen. Er versuchte nicht einmal, es zu verheimlichen.  Als sie von ihm mit Nachdruck die Herausgabe verlangte, lachte er sie aus.  Dann machte sie den Fehler, ihm die Karte aus der Hand reißen zu wollen – da schlug er zu! In diesem Moment wurde ihr endgültig schmerzhaft klar, dass sie den Sohn an den Vater verloren hatte. Aber nicht der heiße Schmerz auf ihrer Wange war es, der ihr zu schaffen machte, sondern der Schmerz im Herzen, feststellen zu müssen, dass dieses einst so liebe Kind nicht wieder zu erkennen war. Sie konnte es nicht fassen und überlegte lange, wann und wo sie etwas hätte anders machen müssen. Aber der Übergang war so schleichend gekommen, dass es einen direkten Moment vermutlich gar nicht gab. 

Als Stella bewusst geworden war, dass sie nun nichts mehr besaß, überhaupt nichts mehr, was ihr noch wichtig war und sie hier halten konnte, fasste sie den Entschluss, sich scheiden zu lassen, nach Europa zurückzugehen und dort neu anzufangen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass David darüber ganz anders dachte, obwohl er offensichtlich gar nichts mehr für sie empfand. Sie wusste viel zu viel und darüber hinaus konnte sein männliches Ego es nicht zulassen, als Eheversager vor seinen Freunden und Geschäftspartnern dazustehen.  So fing er also an, sie einzusperren und von seinen Schlägern überwachen zu lassen. Stella hatte mehrere Versuche gestartet, zu entkommen. Die beiden Muskelprotze hatten sie aber immer wieder gefunden und eingefangen. Jedes Mal rastete David völlig aus und prügelte sie windelweich. Danach hatte er ihr im Ehebett auf äußerst brutale Weise gezeigt, welche ihr Pflichten als seine Ehefrau waren. Allerdings hatte er es nach ihrem letzten Ausbruchsversuch zu arg getrieben und ihr mit seinen Schlägen und Tritten sehr schwere innere Verletzungen zugefügt. Sogar sein Hausarzt, der sonst immer auf seiner Seite stand und ihre Verletzungen als Lappalien herunterspielte, hatte aufgegeben und zu ihrem Glück dafür gesorgt, dass David es zuließ, sie in’s  St. Sinai Hospital einliefern zu lassen. Vermutlich hatte der alte Quacksalber Angst vor David und den Behörden bekommen, sollte sie ihm unter den Händen wegsterben. Die Ärzte hatten sie mehrere Stunden operieren müssen, um ihr Leben zu retten. Zur Erinnerung trug sie nun für den Rest ihres Lebens eine riesige Narbe auf dem Bauch. Für die Ärzte hatte sie selbstverständlich einen „Unfall“ gehabt, an dem sie natürlich selbst Schuld gewesen war. Aber dieser Aufenthalt im Krankenhaus war ihr Glück im Unglück, denn sie hatte von dort in einem unbeobachteten Moment fliehen können. Allerdings war ihr Verschwinden nicht allzu lange unentdeckt geblieben und die Männer hatten sie durch halb New York gehetzt. Bis hierher!

5. Kapitel - Neugier 

Stella öffnete, so vorsichtig und leise es bei diesem baufälligen Ding möglich war, die Tür zu ihrem Kämmerchen. Aber da war natürlich niemand, alles war ruhig und dunkel. Erleichtert machte sie sich daran, ein Feuer in Gang zu bringen, um sich Wasser kochen zu können. Sie brauchte was Warmes. Ein Kaffee wäre jetzt herrlich, dachte sie sehnsüchtig. Mit Milch und ganz viel Zucker. Dazu ein Schokocroissant! Während sie darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann, hielt sie die kalten Hände über das Feuer. Ihr Blick viel auf die Zeichnungen. Irgendetwas war anders. Stella zog nachdenklich die Stirn kraus und überlegte, was es war. Da fiel ihr wieder ein, dass sie am Abend zuvor als Letztes das Bildnis von dem süßen Jungen angesehen hatte. Es hatte auf dem kleinen Papierstapel ganz obenauf gelegen, das wusste sie genau! Jetzt war da das Gesicht des jungen Studenten aus Frankreich zu sehen, der ihr statt Geld einen seiner Burger schenkte und dann das Bild gar nicht haben wollte.  Wo aber war die Zeichnung von dem Kleinen? Sie blätterte alles nochmals durch. Nichts! Es war verschwunden! Womöglich hatte sie es versehentlich mit ihrem langen Mantel von der Kiste gewischt, die als Tischchen diente. Stella suchte den ganzen Raum ab, aber sie fand es nirgendwo. Es blieb verschwunden. Ob sich ihre komische Ahnung bestätigte? War vielleicht doch jemand hier gewesen? Aber wer klaute denn eine Bleistiftzeichnung? Sie blätterte nochmals alles durch und – fand das Bild! Es lag ganz zu unterst! Ich glaube, ich werde langsam verrückt! Ständig glaube ich, mich würde jemand verfolgen! dachte sie und strich sich mit der Hand über die Stirn, als würden dadurch diese unangenehmen Gedanken verschwinden.  

Da hörte Stella es vor der Tür rascheln! Ein Reflex ließ sie nach der Eisenstange greifen und sich in die Ecke hinter der Tür hocken. „Wer ist da?“. Natürlich bekam sie keine Antwort, aber ihr war so, als höre sie ein leises unterdrücktes Kichern. Das konnten nur diese Kinder sein! Sie mussten ihr Versteck entdeckt haben. Stella riss beherzt die Tür auf. „Was wollen Sie von mir?“ fragte sie laut in die Dunkelheit. Sie musste sich große Mühe geben, das Zittern in ihrer Stimme nicht hören zu lassen. Wieder kam keine Antwort. Sie huschte in den kleinen Raum zurück, schlug die Tür hinter zu und lehnte sich dagegen, als würde sie dadurch verhindern können, dass doch jemand zu ihr eindrang. Also doch! dachte sie. Ich bin doch noch nicht irre. Hier war tatsächlich jemand drin und hat in meinen Zeichnungen gewühlt! Ob es wirklich nur Kinder waren? Wenn ja, wieso trieben die sich denn schon zu so früher Stunde hier herum? Es war gerade erst 7:30 Uhr! Aber ein Erwachsener hätte vermutlich versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Warum sonst hätte er sich zu solch einer Zeit auf den Weg zu ihr machen sollen? Oder nicht? Sie war völlig durcheinander. Was mache ich denn jetzt? Umziehen? Aber wohin denn? Kann ich sicher sein, dass sie mich nicht auch woanders finden? Die wohnen sicher schon viel länger hier unten als ich und kennen sich bei Weitem besser aus. Der Gedanke daran, aus ihrem kleinen Unterschlupf wieder ausziehen zu müssen, um weiterhin ihre Ruhe haben zu können, war ihr mehr als lästig. Inzwischen hatte sie soviel Kram zusammengeschafft, dass es sehr mühselig wäre, es an einen anderen Ort zu schleppen. Andererseits wäre es ja vielleicht gar nicht schlecht, jemanden in der Nähe zu wissen, der einem im Notfall helfen konnte. Man müsste nur herausfinden, mit wem man es wirklich zu tun hatte. Waren es gute Menschen? Wer Kinder bei sich hat, konnte doch eigentlich nur gut sein, oder nicht? Sie schüttelte innerlich den Kopf und musste an David und Jared denken. Die beiden waren alles, aber bestimmt keine guten Menschen! Wenn Stella herausfinden wollte, wer da um ihr Kämmerchen schlich, sich ihre Sachen ansah und zu wem derjenige gehörte, würde sie sich wohl überwinden und den Kontakt suchen müssen. 

Stella machte sich aber zunächst einmal „Frühstück“. Sie goss das inzwischen kochende Wasser in die alte Blechdose, die ihr als Tasse diente und gab einige Krümel Tee dazu. Langsam trank sie dieses leicht angefärbte Wasser, damit der Magen endlich ein wenig Ruhe gab. Sie schaute noch einmal in der Kiste nach, die sie für Vorräte, wenn sie denn mal welche hatte, benutzte. Aber da fand sich absolut nichts Nahrhaftes mehr. Nicht einmal ein alter Keks. Stella seufzte. War es schon wieder Zeit zum Betteln gehen? Oh, wie sie das hasste! Sie zählte die Geldstücke nach, die sie noch übrig hatte. 6 Cent und ein Knopf! Großartig! Gedankenverloren kaute sie an einer trockenen Nudel und fragte sich, ob sie den Winter auf diese Weise überleben würde. Es musste etwas passieren, das stand fest. Die Idee, mit den Anderen Kontakt aufzunehmen, setzte sich immer mehr in ihrem Kopf fest. Wenn die schon länger so lebten, dann wussten die vielleicht noch andere Möglichkeiten, sich Nahrung zu besorgen als an den Hintertüren der Restaurants zu betteln. Aber würden die ihre Quellen preisgeben und mit ihr teilen? Und waren die legal? Sie würde auf keinen Fall straffällig werden wollen! Dann war da noch die Frage, wie und wo sie die Anderen finden würde. Sollte sie ihnen erst einmal nachschleichen und beobachten oder gleich offen auf sie zugehen? In Anbetracht dessen, dass die hier eingedrungen waren und in ihren Sachen rumgewühlt hatten, konnte es ja möglich sein, dass die bösartig waren. Andererseits hatten sie nichts zerstört oder gestohlen. Sie hatten ihr auch nicht aufgelauert, um ihr etwas anzutun. Stella seufzte. Zögernd stellte sie die geleerte Büchse beiseite und begann, die alte Tasche neu zupacken, diesmal mit Skizzenblock und Stiften. Ebenso steckte sie ihre Handtasche ein, die sie bei der Flucht noch bei sich hatte. Der Inhalt konnte durchaus nützlich sein. Sie löschte das kleine Feuer, nahm Lampe sowie Eisenstange und machte sich auf den Weg. 

Stella wollte zuerst den Weg nehmen, der sie zu den alten Holzkisten geführt hatte. Aber dann dachte sie, dass das unsinnig wäre. Da sie den Unbekannten vorhin nicht begegnet war, mussten die aus einem anderen Gang gekommen sein. Der Weg, den sie benutzt hatte, wurde von einem anderen, kleineren Tunnel gekreuzt. Doch welcher der beiden Abzweige war denn nun der richtige? Sie entschied sich kurzerhand für den linken, aber nach einer viertel Stunde wurde der Gang immer niedriger und enger. Selbst sie, die relativ klein und zierlich war, musste sich schon in gebückter Haltung hindurchzwängen. Plötzlich war vor ihr eine Wand. Hier war also Endstation. Stella schnaufte enttäuscht und machte kehrt. Als sie am Ausgangpunkt angekommen war und nun den vor ihr liegenden Tunnelgang weitergehen wollte, stolperte sie über ein kleines Päckchen, das genau in der Mitte der Kreuzung lag. Erstaunt wollte sie danach greifen, zuckte dann aber zurück und schaute mit pochendem Herzen in jeden der Gänge. Aber da war niemand!  Es musste aber in der Zwischenzeit jemand hier gewesen sein, denn das Päckchen hatte vorher nicht dort gelegen. Das hätte sie bemerkt! Ob das eine Falle war? Stella fühlte sich plötzlich beobachtet und sehr unbehaglich. Vorsichtig stieß sie mit der Eisenstange an das, was da vor ihr lag. Es war eine Papiertüte mit irgendetwas darin. Sie wartete einen Moment, ob sich irgendwo etwas regen würde. Aber es explodierte nichts und es schlang sich auch nicht plötzlich ein Strick um sie, keine Falltür öffnete sich unter ihr und es schrillten auch keine Alarmglocken. Als all ihre schlimmen Erwartungen ausblieben, fing sie an, so lange mit der Stange an der Tüte herumzustochern, bis das Papier zerriss und etwas über den Boden rollte. Mit der Lampe beleuchtete sie dieses verdächtige Etwas. Sie konnte ihr Glück kaum fassen – ein Apfel und ein Stück trockenes Brot! Stella vergaß jede Vorsicht, ließ die Stange fallen, hockte sich auf den Boden und stopfte sich gierig das Brot in den Mund. Natürlich war das keine gute Idee, denn sie verschluckte sich daran und musste heftig husten. Sie brauchte eine Weile, um sich von dem Hustenanfall zu erholen. Als das Atmen wieder leichter fiel, versuchte Stella es noch einmal – diesmal allerdings mit  kleinen Stückchen und langsamem, gründlichem Kauen, um diese Mahlzeit so lange wie nur möglich genießen zu können. Sie lehnte sich an die kalte Wand, schloss selig die Augen und lächelte. Plötzlich kam ihr ein unangenehmer Gedanke: Was, wenn das hier jemand  verloren hat? Hoffentlich hab ich  jetzt niemandem etwas weggegessen? Könnte aber auch sein, dass meine „Schatten“ es absichtlich hier hinterlassen haben. Extra für mich? Na, wie auch immer – ich bin demjenigen jedenfalls sehr dankbar. Stella räusperte sich und rief ein lautes „Danke!“ in die Tunnel! Sie lauschte einen Moment lang, ob sie Antwort bekommen würde. Als sich wiederum nichts Außergewöhnliches tat, rappelte sie sich wieder auf und klopfte überflüssigerweise den Staub vom Mantel. Der Apfel verschwand in der Tasche. Für später, dachte sie, wer weiß, wann ich mal wieder so ein Glück habe! Dann betrat sie den nächsten Gang. 

Dieser Weg war bedeutend bequemer zu passieren. Es fiel ihr auf, dass sich in Kopfhöhe zwei Rohre durch diesen Tunnel zogen. Ab und zu hörte man dieses helle Klopfen, wie Stella es schon bis in ihr Versteck gehört hatte, nur viel deutlicher. Nach 10 Minuten musste sich die junge Frau erneut zwischen zwei Wegen entscheiden. Es schien ihr richtig zu sein, weiterhin den Rohren zu folgen. Die Durchgänge, die in unregelmäßigen Abständen rechts und links abzweigten, gähnten ihr wie riesige Mäuler entgegen. Bildete sie sich das ein oder wurde es dort vorn heller? Tatsächlich – je tiefer man in’s Innere vordrang, desto mehr wich die Dunkelheit. Da war auch ein Rauschen zu vernehmen, das immer stärker wurde. Sie überlegte, ob sie dem nachgehen sollte, aber dann würde sie den Weg mit den Rohren verlassen müssen. Die verschwanden nämlich im letzten der Durchgänge, die sie passieren mussten. Stella wählte das Licht, denn sie würde die Rohre auf dem Rückweg schon wieder finden. Wo wäre ich wohl jetzt, wenn ich den gleichen Weg an der Oberfläche zurückgelegt hätte? Nach meinen schmerzenden Füßen zu urteilen, wäre das sicher schon Alaska! Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte Stella, dass sie schon fast anderthalb Stunden unterwegs war. Bei dem Gedanken daran, dass der gleiche Weg ja noch einmal zurückgelegt werden musste, um wieder „nach Hause“ zu kommen, stöhnte sie leise. Daran hätte ich schon viel eher denken müssen! Aber erst will ich noch wissen, was da vorn so rauscht und woher das Licht kommt!  

Während Stella bisher immer bergab gegangen war, ging ihr Weg plötzlich in eine Steigung über und es wurde extrem eng. Sie musste auf allen Vieren kriechen, um den Anstieg zu bewältigen. Es war überaus anstrengend und schweißtreibend, aber sie musste unbedingt wissen, was da vorn war. Die Öffnung, durch die das Licht fiel, war nicht mehr weit entfernt. Sie hielt inne und lauschte wieder. Da waren Stimmen! Ja, helle Kinderstimmen! 



[editiert: 08.11.09, 13:10 von sheena]
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sheena
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New PostErstellt: 08.11.09, 13:11  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

6. Kapitel – Verborgene Wunderwelt 

Stella löschte die Laterne, damit sie der Lichtschein nicht verraten konnte. Ganz vorsichtig blickte sie durch die Öffnung, die nicht größer war als eine Dachluke und konnte kaum fassen, was sie dort sah. Ihre Augen weiteten sich und sie hielt wie verzaubert den Atem an: frontal fiel der Blick auf scharfkantige Felsen, bizarre Gesteinsformationen, vermutlich mehrere hunderttausend Jahre alt, die einen riesigen Dom bildeten. Stella wandte fassungslos den Blick nach links, in die Richtung, aus der das Rauschen kam und schnappte nach Luft. In Höhe ihres Verstecks gähnte in der Felswand eine riesige Öffnung, aus der, gleich silberner Haarsträhnen, Wasserfälle in die Tiefe stürzten. Das Licht, welches sie bis hierher gelockt hatte, fiel von sehr weit oben durch den gleichen Schacht ins Innere dieses enormen Gewölbes. Angesichts dieser Ausmaße kam sich Stella winzig wie eine Ameise vor. Die Luft flirrte, als hätte jemand Silberflitter in die Luft geworfen, der mit Glühwürmchen um die Wette tanzte. Sie kannte zwar Wasserfälle aus ihrer Heimat, aber sie hätte nie vermutet, dass man so etwas Wundervolles tief in der Erde unter einer Millionenmetropole wie New York finden würde.  

Stella rutschte noch näher an die Öffnung, um sehen zu können, woher die Stimmen kamen. Auf der gegenüberliegenden Seite, am Ufer des Auslaufs, wo sich das Wasser schon wieder etwas beruhigte, entdeckte sie fünf Kinder im Alter zwischen 8 und 14 Jahren, die mit Holz und Werkzeug hantierten. Offensichtlich wollten sie etwas bauen. Ein wenig abseits hockte ein kleinerer Junge auf dem nackten Felsboden und schaute neugierig den Großen zu. Vermutlich hätte er gern mitgearbeitet, aber wenn man noch so klein ist, schicken einen die Älteren immer weg, weil man angeblich nur stören würde! Stella kannte das aus ihrer Kindheit. Ihre großen Schwestern hatten sie auch nie mitmachen lassen, egal, wobei.  

An der Felswand hinter der kleinen Gruppe hatte es sich eine ältere, hagere Frau mit gütigem Gesicht bequem gemacht. Ihr Haar war zu einem Dutt aufgesteckt. Sie saß auf einer Decke, hatte sich an die Wand gelehnte und strickte. Neben ihr stand ein Korb mit Äpfeln. Ab und zu schaute sie lächelnd zu den Kindern hinüber und schüttelte amüsiert den Kopf. Stella bemerkte, dass alle Kinder und auch die Frau dieselbe merkwürdige Kleidung trugen wie ihr kleines Modell vor dem Spielzeugladen. Nun hatte sie eine Ahnung, wo das Kerlchen und das große Mädchen, das ihn gesucht hatte, leben könnten. Wenn die beiden zu denen da unten gehörten, waren sie anscheinend gar nicht so sehr zu bedauern, denn dann hätten sie Unterkunft, Nahrung, eine Familie und offensichtlich Spaß. 

Stella machte es sich in ihrem Versteck etwas bequemer und sah lächelnd den kleinen Handwerkern zu. Nach einer Weile nahm das Projekt der Kinder langsam Gestalt an. Anscheinend wollten sich die Burschen ein Floß zusammenbauen. Sie hämmerten Nägel in Holzbretter und banden Stricke um Stangen, lachten und stritten, überlegten und rissen wieder auseinander, um von vorn anzufangen. Man hörte Wortfetzen wie: „Aber Vater hat gesagt.....“ und „Vincent hat mir gezeigt..... „ oder auch „Mouse wollte doch noch........“.  

Der Kleine hatte sich unbemerkt dichter an die Baustelle herangeschoben und reckte den Hals, um besser sehen zu können. Das war allerdings nicht sehr klug, denn ein älterer Junge mit Brille trug ein langes Brett unter dem Arm und drehte sich nun unerwartet herum. Er erwischte versehentlich mit dem einen Ende des Brettes den Knirps an der Schulter. Der Kleine schrie laut auf und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm. „Jacob, was ist los?“ rief die Frau erschrocken und rappelte sich, so schnell es ihr möglich war, auf. Die anderen Kinder ließen augenblicklich alles fallen und stürzten auf den Jungen zu, der sich bemühte, die Zähne zusammenzubeißen und nicht zu weinen. Die Frau prüfte besorgt, ob er sich wirklich ernsthaft verletzt hatte, konnte aber nichts feststellen und streichelte mit tröstenden Worten den Arm des kleinen Unglücksraben. Der Große mit der Brille stand mit betroffener Miene daneben. „Es tut mir so leid, Jacob. Ich hab dich nicht gesehen.“ entschuldigte er sich. Dann wandte er sich an die Frau: „Wirklich, Mary, ich hab das nicht mit Absicht getan!“ Mary nickte verstehend: „Ist schon gut, Eric.“ Der Kleine schniefte:„Ich weiß ja, dass das keine Absicht war. Hab mich nur so erschrockt.“ Ein anderer Junge mit rostrotem Haar rief dazwischen: „Das heißt aber ‚erschreckt‘!“. „Nein“, meinte ein Dritter, „das heißt ‚erschrocken‘!“ Die Frau hob beschwichtigend eine Hand und meinte mit sanfter Stimme: „Wir werden nachher zu Vater gehen und ihn um ein Wörterbuch bitten. Dann könnt ihr nachschauen, was richtig ist!“ Sie zog den Jungen, den alle ‚Jacob‘ genannt hatten, zu sich auf die Decke, drückte ihm einen Apfel in die linke, ein Buch in die rechte Hand und gab ihm einen Kuss auf den rotbraunen Wuschelkopf. Er rückte sich zurecht, lehnte sich, wie die Frau, an die Felswand und wischte noch einmal kurz mit dem Ärmel über Augen und Nase. Bevor er sich seinem Buch zuwandte, schaute er noch einmal sehnsüchtig zu den Großen hinüber und seufzte. Plötzlich wanderte sein Blick die gegenüberliegende Felswand hinauf und blieb an Stellas Ausguck hängen. Er kniff die Augen zusammen und sah ihr für einen kurzen Moment direkt ins Gesicht. Sie duckte sich. Hatte sie recht gesehen? Das war doch der Knirps, den sie porträtiert hatte! Der vom Spielzeugladen! Diese blauen Augen – das musste er sein! Sie wartete auf irgendeine Reaktion des Jungen, die sie verraten würde. Aber alles blieb ruhig. Vorsichtig schaute sie noch einmal hinüber. Der Kleine fixierte immer noch ihr Versteck, rührte sich aber nicht. Er schien den anderen seine Entdeckung noch nicht mitgeteilt zu haben, denn alle gingen weiterhin ruhig ihren Tätigkeiten nach. Stella erwiderte nun seinen Blick und legte dabei einen Finger an die Lippen. Eine stille Bitte, sie nicht zu verraten. Einen Moment schien der Kleine zu überlegen, dann nickte er kaum wahrnehmbar. 

Die junge Frau hatte nun ungefähr eine halbe Stunde in ihrem Versteck gehockt und spürte, wie die Kälte wieder in ihr hochkroch. Darüber hinaus war es sicher besser, jetzt hier zu verschwinden. Sie trennte sich zwar nur ungern von diesem Anblick der Harmonie und Freundlichkeit, aber sie hatte schließlich noch einen weiten Weg vor sich, der noch dazu bergauf ging. Sie kroch den Gang zurück, bis es wieder möglich war, aufrecht zu stehen und streckte sich, um Gelenke und Muskeln zu lockern, die von der kauernden Haltung zu schmerzen begonnen hatten. Stella zündete ihre Laterne wieder an und machte sich nachdenklich auf den Rückweg. Sie war fasziniert davon, wie freundschaftlich, respektvoll und geduldig die Kinder miteinander umgingen. So konnte es also auch gehen, nicht nur mit Schadenfreude, Hohn und Gewalt, wie sie es von Jared und seinen Freunden kannte. 

Stella musste auf ihrem Rückweg wieder vorbei an den gähnenden Mäulern, die ihr merkwürdigerweise gar nicht mehr so unheimlich vorkamen. Als sie an dem ersten Durchbruch vorbeigehen wollte, stellte sie fest, dass man das Rauschen des Wassers durch diesen Tunnel noch viel deutlicher wahrnehmen konnte. Das hatte sie vorhin gar nicht bemerkt, weil sie sich nur auf das Licht konzentriert hatte. Stella zögerte und überlegte, ob sie sich nicht doch noch schnell mal in diesem Teil umsehen sollte. Die Neugier siegte über die Müdigkeit. Obwohl sie ja eigentlich schon längst auf dem Rückweg sein wollte, bog sie nun doch nach rechts ab. Auch hier verzweigte sich der Weg nach einigen Metern. Aber am Ende des einen Ganges sah sie wiederum Licht. Diesen betrat sie. Diesmal wurde es nicht enger und es ging auch weiterhin bergab. Sie konnte bequem aufrecht bis zum Ende gehen. „Wieso hab ich denn diesen Weg nicht gleich genommen?“ murmelte sie in sich hinein. „Nöö, da kriecht man lieber wie eine Blindschleiche auf dem Bauch und holt sich aufgeschrammte Knie und n Schnupfen!“ Schon von weitem konnte man die Reflektionen des Wassers erkennen, die wie hektische kleine Spots über die Tunnelwände huschten. Einen Moment blieb Stella stehen und schaute den tanzenden Lichtflecken zu. Sie musste sich auf gleicher Höhe mit dem Gewässer befinden. Tatsächlich – am Ende des Ganges stand sie direkt am Ufer des Flusses, der zur rechten Seite hin in den Wasserfall überging. Stella hielt inne und lehnte sich an die Felsen, um diesen unglaublichen Anblick in sich aufnehmen zu können. An den Felswänden hatte sich wie ein dicker Teppich ein Geflecht von Moosen gebildet,  über den man unwillkürlich mit der Hand streichen wollte. Myriaden von Wassertropfen blitzten in diesem Gewebe wie Silber auf. Das alles hatte etwas Berauschendes und Mystisches. Stella stand da und staunte wie ein Kind auf dem Weihnachtsmarkt. Sie schloss die Augen und horchte nur noch auf das Rauschen des Wassers. Sie sog den Duft der feuchten Luft ein, der sich mit dem von Erde mischte. Sie spürte den feinen Wasserstaub auf ihrem Gesicht und fühlte, wie er sich wie ein Schleier auf ihr Haar legte. Plötzlich stellte sie fest, dass in der Geräuschkulisse etwas fehlte. Sie hörte die Kinder nicht mehr! Langsam öffnete Stella die Augen und lauschte angestrengt. Wurden die Stimmen vom Rauschen des Wasserfalls verschlungen oder war sie tatsächlich allein in diesem riesigen Gewölbe? Schritt für Schritt schob sie sich auf dem schmalen Uferweg entlang in Richtung Fallkante, um dann seitlich auf den frei fallenden Fluss und den darunterliegenden See blicken zu können. Von ihrem Versteck aus war es schon ein atemberaubender Anblick gewesen, aber von hier aus in die Tiefe zu blicken ließ sie taumeln. Das feinzerstäubte Wasser und das Licht zauberten über dem Auslauf des Wasserfalls einen Regenbogen. Eine Märchenkulisse!  Alles schien so unwirklich und war doch da vor ihr zu sehen!



[editiert: 08.11.09, 13:19 von sheena]

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sheena
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New PostErstellt: 11.11.09, 10:35  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

7. Kapitel – Gefährlicher Weg

Vorsichtig beugte sie sich vor, um unbemerkt die andere Seite des Seeufers sehen zu können. Das Werkzeug und die Baumaterialien lagen verwaist auf dem Felsboden. Die Frau mit dem kleinen Jungen war auch verschwunden. Nur die Decke, auf der die beiden gesessen hatten, und das Buch des Kleinen lagen noch da. Es deutete alles darauf hin, dass sie vorhatten, wieder zurückzukommen. Stella überlegte, ob sie ihnen folgen sollte. Sie war ja eigentlich hierher gekommen, um Kontakt mit diesen Leuten aufzunehmen. Die Frau hatte einen freundlichen Eindruck gemacht. Man brauchte sicher keine Angst zu haben, dass sie einen angreifen oder fortjagen würde. Stella nickte fest entschlossen in sich hinein und wollte sich auf den Weg machen. Aber wie? Sie musste feststellen, dass hier an dieser Stelle der Weg für sie zu Ende war. Wie sollte sie über den Fluss kommen? An der Seite des Wasserfalls hinabzuklettern wäre einfach, da die Felsen gut dafür geeignet wären. Allerdings würde sie unten wieder vor dem gleichen Problem stehen. Stella entschied, zum Durchgang zurückzuklettern und sich in der anderen Richtung, flussaufwärts, umzuschauen. Vielleicht gab es hinter der Flussbiegung eine Möglichkeit, die Seiten zu wechseln.

Der Weg am Ufer entlang war schmal und glitschig, das erschwerte das ganze Unterfangen erheblich. Dazu kam noch, dass Stellas Kräfte nun doch sehr nachließen und sie in jedem Muskel und Knochen die Anstrengungen der letzten Stunden spürte. Aber sie wollte unbedingt noch schauen, ob sie einen Übergang finden konnte. Sie setzte vorsichtig einen Fuß nach dem anderen, tastete mit den Händen an den Felswänden nach Gelegenheiten, die Halt geben konnten. Der Pfad wurde nach ein paar Metern so schmal, dass sie nur noch seitlich Schritt für Schritt vorwärts kam. Stella presste sich an bäuchlings an die Wand und klammerte sich an kleinen Vorsprüngen fest, so gut sie konnte. Plötzlich löste sich unter ihrem Fuß ein kleiner Stein. Sie verlor den Halt und rutscht ab. Kaltes Wasser umspülte ihre Beine. Die Jogginghose und der Saum ihres langen Mantels sogen sich augenblicklich voll und wurden immer schwerer. Die alte Tasche auf ihrem Rücken zog sie noch zusätzlich in Richtung Wasser! Stella wurde panisch und versuchte verzweifelt, mit ihren Füßen wieder Halt zu finden. Sie keuchte vor Anstrengung und Angst. Wenn sie hier in den Fluss fiele, würde sie das nicht überstehen. Die schwere Kleidung würde Stella in die Tiefe ziehen und sie würde ertrinken. Sollte sie es wider Erwarten schaffen, sich über Wasser zu halten, wäre spätestens am Wasserfall ihr Leben zu Ende. Den Sturz in die Tiefe würde sie sicher nicht überleben. Die Kraft in den Händen ließ rapide nach. Hektisch suchten ihre Füße nach Halt. "Hilfe!", keuchte sie tonlos. "Hilft mir denn keiner? Das kann es doch nicht gewesen sein!" Die rechte Hand rutschte nun endgültig von dem feuchten Felsvorsprung ab. Dafür hatte mit einem Mal der Fuß wieder festen Grund. Nun konnte sie sich mit der Kraft des Beines etwas hochdrücken, um sich so wieder mit beiden Händen am Fels festhalten zu können. Dann zog sie sich mit aller Kraft auf den schmalen Pfad zurück. Als Stella unter beiden Beinen festen Boden spürte, musste sie erst einmal innehalten und ausruhen. Ihr Atem flog und das Herz raste. Ihr war heiß und kalt zu gleich. Der ganze Körper zitterte vor Anstrengung. Trotz der hohen Luftfeuchtigkeit war ihre Kehle wie ausgedörrt. Stella stand festgekrallt an der Wand und wagte kaum, sich zu rühren. Aber sie musste hier weg. Irgendwie! Es war niemand da, der ihr hätte helfen können. Sie war ganz auf sich allein gestellt. Die Kräfte ihrer zitternden Glieder ließen immer mehr nach, also musste so schnell wie möglich was passieren. "Los, Stella! Weiter! Du musst! Weiter! Du schaffst das! Du musst das schaffen!" sprach sie sich selber Mut zu.

Stella bedauerte ihren Leichtsinn sehr. Wie konnte sie so etwas Gefährliches allein unternehmen? Aber gut, sie war nun mal hier und musste irgendwie weiter. Doch hatte es überhaupt noch Sinn, sich weiterhin dieser Gefahr auszusetzen? Sollte sie nicht lieber versuchen, heil zum Durchgang zurückzukommen, bevor es zu spät war und sie Mut sowie Kraft vollends verließen? Also wie jetzt weiter? Vorwärts? Ja, auf jeden Fall! Den gleichen Weg zurückzugehen schien ihr unlogisch, denn dann müsste man irgendwann diesen Wahnsinn noch einmal wagen. Vielleicht war ja auch direkt hinter der Biegung ein Übergang! Wenn doch nur diese verdammt Neugier nicht wäre! Dummerweise war die wieder mal stärker als die Vernunft. Stella wollte keinen weiteren Gedanken mehr daran verschwenden, dass sie ja noch den weiten Weg bis zu ihrem Versteck zurücklegen musst und auch nicht daran, ob es von dort, wohin sie jetzt wollte, überhaupt einen Weg zurück geben würde. Möglicherweise waren ja die Chancen zu überleben, auf der anderen Seite des Flusses viel größer. Eine wärmere Höhle, Menschen, die es gut ihr meinten, ihr halfen und sie vielleicht auch brauchten. Stella seufzte und zuckte leicht die Schultern: "Was soll’s! Ich werde es ja merken, wenn es ein Fehler war. Schlimmer kann es ja kaum noch werden! Also, vorwärts, Mädchen! Du bist schon zu weit gegangen, um umzukehren!" Sie wagte es, sich leicht nach hinten zu lehnen, um besser in die Flussbiegung einsehen zu können, doch ein Felsvorsprung versperrte ihr die Sicht. Also noch einen winzigen Schritt vorwärts! Diesmal war Stella klüger und prüfte jeden Stein unter ihren Füßen auf seine Widerstandfähigkeit. Der Absatz, auf dem sie sich entlanghangelte, war gerade so breit wie ein Fuß lang, aber er schien fest zu sein. Als sie die nächsten Meter sicher hinter sich gebracht hatte, wurde sie wieder zuversichtlicher und gewann ihren Mut zurück. Irgendwann wurde dieser Sims so breit, dass man nicht mehr seitwärts gehen musste. Jetzt konnte man auch hinter dem Felsvorsprung weit in den Tunnel hineinsehen, aus dem sich ihr der Fluss durch sein unterirdisches Bett entgegenschlängelte. Stella kniff die Augen zusammen, um durch das Halbdunkel hindurch in der Ferne etwas erkennen zu können. Sie hörte ein metallenes Rasseln und Klappern. Was war das und woher kam dieses Geräusch?

Es erinnerte sie an ihre Kindheit. Im Garten der Großeltern hatte der Großvater für sie und ihre Schwestern an einem dicken Kirschbaumast eine Schaukel befestigt. Diese hing an Ketten, die das gleiche Geräusch verursachten, wenn die leere Schaukel durch den heftigen Wind, der vom Meer herüberwehte, bewegt wurde. Für einen kurzen Moment war Stella wieder in diesem Garten, sah sich als Sechsjährige auf dem dicken Ast sitzen und von oben ihre fünf Jahre ältere Schwester Birgit mit Kirschkernen bespucken. Zur Strafe, weil die sie nicht auf die Schaukel gelassen hatte. Leider hatten die Kirschkerne auf Birgits Kleid winzige, rote Spuren hinterlassen. Stellas Strafe dafür bestand darin, dass sie tags darauf am Waschtrog stehen und das Kleid waschen musste. Birgit und die ein Jahr jüngere Marlen hatten ihr hämisch grinsend dabei zugesehen und fleißig Kirschen in sich hineingestopft. Damals hatte Stella sich geschworen, dass sie den beiden das irgendwann heimzahlen würde. Aber das erübrigte sich, denn zu ihrer größten Freude hörte sie die Schwestern in der Nacht wegen heftiger Bauchschmerzen jammern. Am nächsten Tag mussten die beiden mit Kamillentee und Wärmflasche im Bett bleiben. Da hatte sie die Schaukel ganz für sich allein.

Der Gedanke an ihre Kinderzeit bei den Großeltern wärmte sie ein wenig, denn durch die nasse Kleidung, den Hunger und die Müdigkeit fror sie erbärmlich. Stella bedauerte, dass sie nicht daran gedacht hatte, ein paar Holzscheite in ihre Tasche zu packen, dann hätte sie sich jetzt ein kleines Feuer machen können. So musste sie in Bewegung bleiben, um nicht einzuschlafen und völlig auszukühlen. Aber hier, an dieser Stelle, wäre ein Feuer sowieso nicht möglich gewesen.

Sie hatte sich inzwischen ein gutes Stück diesem Rasselgeräusch genähert. Jetzt war auch zu erkennen, wodurch es verursacht wurde. Vor ihr tauchte undeutlich etwas auf, das den Fluss überspannte - eine Hängebrücke! Stella konnte es kaum fassen! Wer, um alles in der Welt, baute hier unten so ein Ding? Aber das war ihr jetzt so ziemlich egal. Wichtig war für sie nur, dass sie endlich gefunden hatte, wonach sie so angestrengt gesucht hatte. Nun konnte sie darauf hoffen, den Winter zu überleben.

Stella hatte endlich die Brücke erreicht. Sie kletterte seitlich an dem Pfosten, an dem die starken, dicken Ketten befestigt waren hoch und ließ sich völlig entkräftet rücklings auf die Planken fallen. Sie schloss die Augen und wollte nie wieder aufstehen. Ihr Körper war wie mit Blei gefüllt. Die Hände taten ihr weh und brannten von der ungewohnten Anstrengung, sich an rauen Steinen festkrallen zu müssen. Die Knie zitterten noch im Liegen und die Füße fühlten sich wie Eisblöcke an. Ihre Lunge pumpte heftig Sauerstoff in sich hinein und das Herz raste. Stella wäre am liebsten regungslos liegen geblieben, bis ihr Körper wieder seinen normalen Zustand erreichte, doch die Kälte ließ das nicht zu. Ächzend setzte sie sich auf und sah sich um. Eigentlich ein wunderschöner Platz, wenn man in der richtigen Stimmung war. Aber im Moment hatte sie keinen Sinn für den Liebreiz dieser unterirdischen Wunderwelt.

Stella stand mühselig auf und hielt sich krampfhaft an der Kette fest, die als Handlauf diente. Eine äußerst wackelige Angelegenheit! Sie schaute zu dem Ende der Brücke, an welchem sie hier heraufgeklettert war und stutzte. Nein, dass konnte nicht wahr sein! Sie sah entgeistert auf die Tunnelöffnung, die ihr da entgegengähnte! Hierher führte also auch ein weit weniger gefährlicher Weg! Sie hätte nur sämtliche Gänge abklappern müssen und wäre dann irgendwann mit trockenen Füßen hier angekommen. Genervt verdrehte sie die Augen und schüttelt ungläubig den Kopf über ihre eigene Dummheit. Vorsichtig drehte sie sich nun in die andere Richtung und versuchte, dieses Schaukelding unter ihren Füßen nicht zu sehr in Bewegung zu bringen. Als sie nach dieser Wackeltour unbeschadet das andere Flussufer erreicht hatte, sah sie zurück, lächelte zufrieden und war ein ganz kleinwenig stolz auf sich. Vor einer Viertelstunde hatte sie noch geglaubt, sie müsste in diesem eiskalten Wasser ertrinken und niemand würde je ihre sterblichen Überreste finden. Plötzlich war das alles hier gar nicht mehr so entsetzlich, wie es vorhin noch den Anschein hatte. Mit einem Ruck drehte sich Stella um und betrat den weiterführenden Tunnel.

Hier sah alles irgendwie anders aus. Es brannten Fackeln, die in Abständen an den Tunnelwänden befestigt waren. Dadurch war es hier bedeutend wärmer als auf der anderen Seite der Brücke. Der Boden war viel ebener und man stolperte nicht ständig über Geröll. Stella folgte diesem Gang, stieg eine schmale steinerne Treppe hinab und stand unverhofft in einem Zugang, der direkt zu der Stelle führte, an dem die Kinder gespielt und die Frau und der kleine Junge gesessen hatten. Die junge Frau stand mit offenem Mund und staunenden Augen am Ufer und versuchte, das alles zu erfassen. Aus dieser Perspektive bot der Wasserfall ein noch beeindruckenderes Bild als von ihren Ausguck dort oben. Wenn sie sich vorhin schon winzig vorgekommen war, dann wurde dieses Gefühl hier und jetzt noch bei weitem überboten. Die Mächtigkeit und die Höhe dieses Doms waren atemberaubend. Stella konnte sich von diesem Anblick einfach nicht trennen. Unbewusst nahm sie auf der Decke Platz, die liegengelassen worden war und bestaunte diese unterirdische Märchenwelt. Sie wartete auf die Feen und Trolle, von denen der Großvater ihr und den Schwestern an den langen, dunklen Winterabenden erzählt hatte. Diese langohrigen, knollnasigen Gestalten mussten doch jeden Augenblick hinter den Felsen hervorkommen! Großvater hatte allerdings immer berichtet, dass sich diese Märchenwesen meist in den riesigen skandinavischen Wäldern aufhielten und dort ihr Unwesen trieben. Es gab aber auch Hausgeister, die in den Häusern zwischen den Wänden lebten. Sie versteckten sich hinter den Öfen, wo es schön warm war. Stella hatte oft hinter den Kamin in Großmutters gemütlicher Küche geschaut, ob sie nicht doch einen Troll entdecken würde. Jedes Mal wurde sie enttäuscht. Sie wollte doch nur mal einen sehen, vielleicht auch mit ihm eine Weile spielen, weil sie ja sonst niemanden hatte. Wenn sie dann traurig auf ihrem Bänkchen saß und in die Flammen starrte, setzte sich die Großmutter zu ihr, bürstete ihr die langen blonden Zöpfe und nahm sie tröstend in den Arm. Ja, die Großmutter! Sie hatte sie weich und warm in Erinnerung, mit einem sanften, gütigen Lächeln auf dem runzeligen Gesicht und einer Brille auf der Nasenspitze. Wenn Stella irgendwo der Duft von Suppengrün und Äpfeln in die Nase zog, sah sie unweigerlich die geliebte Oma vor sich. So wie jetzt! Die alte Frau tauchte plötzlich aus einem lichtdurchfluteten Nebel auf und kam auf sie zu. Doch woher? Oma war doch schon lange tot! Doch dieser Duft war ganz dicht bei ihr! Sie sog ihn tief ein und lächelte. "Omi!" murmelte sie und streckte die Arme nach ihr aus. Eine warme Hand griff nach der ihren und hielt sie ganz fest. Die andere streichelte ihre Wange. Eine sanfte Stimme flüsterte: "Hallo, junge Frau!" Warum sagte Oma "junge Frau" zu ihr? Na ja, sie hatten sich ja ewig nicht gesehen. Allerdings klang ihre Stimme so merkwürdig. "Hallo, Augen auf!" hörte Stella. Sie versuchte angestrengt, die Lider zu heben. Und wieder diese merkwürdige Stimme, die so gar nicht zu Omas Gesicht passte: "Kommen Sie, wachen Sie auf!" Das Streicheln auf ihrer Wange ging zu einem herben Tätscheln über. Nach und nach fand Stella aus ihrem Traum in die Realität zurück, öffnete die Augen und sah durch einen Nebelschleier hindurch in das besorgte Gesicht von Mary.



[editiert: 13.11.09, 23:33 von Gaya]
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sheena
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New PostErstellt: 11.11.09, 10:42  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

das mit der formatierung tut mir sehr leid. ist alles bissel winzig. im original ist es die gleiche wie in den kapiteln zuvor, aber die wird merkwürdigerweise immer wieder verändert, egal, was ich anstelle!

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Gaya

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New PostErstellt: 11.11.09, 11:47  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

ja, das ist hier oft so blöd.



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sheena
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New PostErstellt: 13.11.09, 23:30  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

8. Kapitel - Krank 

Wie aus weiter Ferne und mit einem dumpfen Echo hörte Stella verschiedene Stimmen, die ihr Fragen stellten, deren Sinn sie allerdings nicht erfassen konnte. Ihre Augen brannten, der Kopf tat ihr weh und sie zitterte am ganzen Körper so sehr, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. Als Mary in die glasigen Augen der jungen Frau sah, ahnte sie schon, was mit ihr los war. Sie legte ihre Hand auf Stellas Stirn und ihre Ahnung wurde bestätigt. „Sie hat hohes Fieber! Wir müssen ihr helfen!“ sagte sie zu ihrer Begleiterin,  die etwa in Stella’s Alter war. „Bitte hilf mir, Rebecca. Wir müssen sie zu Vater bringen, auch wenn er noch so sehr schimpfen wird.“ Die beiden Frauen griffen Stella unter die Arme und halfen ihr, so gut es ging, auf die Beine. Rebecca legte ihr die Decke über die Schultern, um sie zu wärmen. Mary wies an: „Ihr Kinder bleibt hier. Kipper, du bist der Älteste, du hast das Sagen, verstanden? Macht keinen Unsinn. Wenn wir die junge Frau versorgt haben, komme ich wieder! Und passt mir auf Jacob auf!“ Der Halbwüchsige, den sie angesprochen hatte, nickte ernst mit dem Kopf und griff automatisch nach der Hand des kleinen Jungen. „Mach dir keine Sorgen, Mary! Wir kriegen das hier schon hin!“ Mary nickte. Sie wusste, dass sie dem Jungen vertrauen konnte. Er war bisher immer zuverlässig gewesen. Dann legte sie sich den Arm der fiebernden Frau um die Schulter, um sie zu stützen. Rebecca tat das Gleiche auf der anderen Seite. Stella bekam das alles nur wie durch einen dicken Nebel mit. Der Tunnel, durch den sie geführt wurde, schien unendlich zu sein. Trotz der Hilfe der beiden fremden Frauen konnte sie sich kaum auf den Beinen halten. Kalter Schweiß bedeckte ihr Gesicht. Schüttelfrost hatte sie gepackt und ließ ihren ganzen Körper schlottern. Der Puls raste, ihr Kopf dröhnte bei jedem Schritt und Beine schien sie gar nicht mehr zu haben. Sie keuchte. Jeder Atemzug schmerzte in der Brust und reizte zum Husten. Als Mary dicht neben ihr nach einem „Vater“ rief, hatte sie das Gefühl, eine Sirene würde direkt in ihrem Kopf losgehen. Wann war diese Tortour endlich zu Ende? Sie wollte nur noch liegen und schlafen. 

Endlich wurde sie auf ein Bett gelegt. Ruhe! Schlafen! Nur noch Schlafen! Aber im nächsten Moment wurde sie schon wieder aufgerichtet, um ihr den feuchten, schweren Mantel, den Pullover und die Unterwäsche ausziehen zu können. Man befreite sie auch von den völlig durchnässten Schuhen, Strümpfen und der Jogginghose. Stattdessen zog man ihr ein langes, flauschiges Nachthemd an. Dann fühlte sie eine weiche Decke, die sie warm einhüllte. Der Brustkorb der jungen Frau pumpte wie ein Blasebalg. Ein harter, trockener Husten schüttelte krampfartig den kranken, fiebernden Körper.  Als sich der Anfall gelegt hatte, fiel Stella völlig entkräftet in die Kissen zurück. Jemand hob vorsichtig ihren Kopf an und hielt ihr einen Becher an die aufgesprungenen Lippen. Angenehm warmer Kräutertee rann durch die ausgetrocknete Kehle. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen und wollte gierig den ganzen Becher auf einmal austrinken. Doch sie hörte, wie Rebecca’s Stimme leise mahnte: „Langsam, schön langsam!“ Sie gehorchte. „So ist es gut.“.  

Mary saß auf der Bettkante und legte der Kranken einen kühlenden Lappen auf die Stirn. Sanft strich sie der Fremden eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und redete beruhigend auf sie ein. Als Mary Schritte hörte, sah sie auf. Angesichts der grimmig dreinschauenden Person, die ihre Kammer jetzt betrat, wechselt ihr Gesichtsausdruck von Mitleid zu Besorgnis. Rebecca versuchte sich unsichtbar zu machen und verzog sich in  eine Ecke, um sich um die nassen, schmutzigen Kleider der Frau zu kümmern. Gleich würde der alte, grauhaarige Mann wieder diese schon allseits bekannte Predigt halten. Er hatte ja Recht – es war immer ein großes Risiko, Fremde hierher zu bringen. Aber es war doch ein Notfall. Wenn er erst gesehen hatte, wie schlecht es der Frau ging, würde er das schon einsehen und sich beruhigen. Das war bis jetzt immer so abgelaufen, wieso nicht auch heute? Und in Fällen wie diesem musste man einfach helfen. Gerade er als Arzt verstand das letztendlich auch. Er würde selber auch nicht anders gehandelt habe.  

Da stand er nun vor Mary, hatte sein energisches Gesicht aufgesetzt und blickte streng über den Brillenrand. In der einen Hand hielt er eine alte abgewetzte Arzttasche, mit der anderen stützte er sich auf einen Gehstock. „Wie oft soll ich Euch noch ………“ begann er. Doch Mary fiel ihm ein wenig respektlos ins Wort: „Ja, ja, Vater. Ich kenne die Gesetze genauso gut wie du. Ich war dabei, als wir sie damals beschlossen hatten. Und diese Rede hast du schon oft genug gehalten. Dafür ist jetzt aber keine Zeit! Sie braucht deine Hilfe!“ Etwas konsterniert hob der alte Mann eine Augenbraue und verschluckte den Rest des Satzes, der ihm noch auf der Zunge lag. Gegen diese Frau kam er ja doch nicht an und Recht hatte sie auch noch. Er wechselte mit Mary die Plätze und begann, Stella zu untersuchen. Er hörte sie mit einem veralteten Stethoskop ab, fühlte den Puls und schob ihr ein Thermometer in den Mund. „Wo habt ihr sie gefunden?“ fragte er. „Sie lag am Ufer des unteren Sees, am Wasserfall.“ antwortete Mary. „Wie ist sie nur ungesehen bis dorthin gekommen? Und wer ist sie?“ überlegt er. Mary zuckte die Schultern und erneuerte den feuchten Lappen auf Stellas Stirn. „Das hab ich sie auch schon gefragt, aber sie konnte einfach nicht mehr antworten.“ Der alte Arzt zog seiner Patientin das Thermometer aus dem Mund und wiegte beim Ablesen besorgt den Kopf. „39,8°C! Ich werde ihr eines von unseren kostbaren Antibiotika geben müssen. Hoffentlich schleppt sie uns hier nicht irgendeine Seuche ein, wie es damals bei Dimitri der Fall war!“ Mary versuchte, ihn zu beruhigen: „Wir fanden sie in klitschnasser Kleidung. Ich denke eher, dass sie ins Wasser fiel und ziemlich lange mit diesen durchnässten Sachen herumirrte. Dabei wird sie sich erkältet haben. Sie hustet ganz furchtbar“ Vater knurrte mürrisch: „Ja, das hat man durch sämtliche Tunnel gehört. Hoffen wir, dass es nur eine Bronchitis ist.“ Er flößte Stella mit einem Löffel Hustentropfen ein und ließ sie mit Wasser nachspülen. „Dimitri hat auch gehustet und auf diese Weise fast die gesamte Tunnelgemeinde mit der Lungenpest angesteckt. Ihr wisst selbst am besten, wie es ausgegangen ist! Wieviel Mühe wir hatten, die Epidemie in den Griff zu bekommen!“  

Dank einiger Helfer, die bereit gewesen waren, sich der Gefahr der Ansteckung auszusetzen, konnten die entsprechenden Medikamente besorgt werden. Allein die Beschaffung so großer Mengen war schon riskant. Jeder Zeit hätten die falschen Leute aufmerksam werden können und die Tunnelgemeinde wäre entdeckt worden. Mary, Vincent, Catherine und einige Andere hatten Tag und Nacht geschuftet, um ihm zu helfen, die tödliche Krankheit erfolgreich zu bekämpfen. Trotzdem hatten sie Dimitri und die hübsche, kleine Elli verloren. Noch so eine Epidemie konnten sie hier unten nicht gebrauchen.  

Mary und Rebecca ließen wortlos Vaters Vorwürfe über sich ergehen und warfen sich hinter seinem Rücken vielsagende Blicke zu. Sie waren überzeugt davon, richtig gehandelt zu haben. Jeder andere hätte das gleiche getan. Der alte Mann vorne weg! 

Vater kramte in seinem Arztkoffer und holte ein Tablettenröhrchen hervor. „Hier! Bitte sorg dafür, dass sie die regelmäßig einnimmt“ Er drückte Mary das Antibiotikum in die Hand und tätschelte versöhnlich ihren Arm. „Wenn sich ihr Zustand verschlechtert, dann sag mir schnellstens Bescheid. Dann muss ich weitere Untersuchungen durchführen, um sicher zu gehen, dass es nicht doch etwas Gefährlicheres als eine Bronchitis ist.“ Mary drückt die Hand, die noch immer auf ihrem Arm lag: „Das mache ich. Du kannst dich auf mich verlassen.“ Er ließ ein kurzes Lächeln sehen. „Ich weiß.“ murmelte er. Dann verließ er die Kammer. Mary sah ihm lächelnd nach. Sie hatte schon vorher gewusst, dass er so handeln und so reden würde. Sein Zorn hielt nie lange an, er konnte einfach nicht nachtragend sein, wenn es um solche Dinge ging. Doch wenn er merkte, dass er hintergangen wurde oder jemand der „Familie“ schaden wollte, dann konnte er auch hart und unerbittlich reagieren. Seine Art, die Gemeinde zu führen, war die beste, die sich Mary vorstellen konnte. Schon damals, als sie hier runter kam, um Zuflucht zu finden, war sie von diesem Mann stark beeindruckt gewesen. Er hatte für sie eine unglaubliche Ausstrahlung. Wenn er den Raum betrat, war es nicht notwendig, dass er etwas sagte oder tat. Sein Charisma sorgte dafür, dass er sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte, auch wenn er nur in einer Ecke stand. Als er sie damals vor der kleinen Gemeinschaft begrüßte, hatte er sie mit einem Blick angesehen, der ihre Knie weich werden ließ. Sie war fast im selben Augenblick in ihn verliebt gewesen und liebte ihn auch heute noch. Doch Mary musste nach einiger Zeit einsehen, dass er in ihr nur eine hilfebedürftige, junge Frau sah und ihre Zuneigung nie erwidern würde. Trotzdem war sie bereit, alles zu tun, um ihm dabei zu helfen, diese kleine unterirdische Welt weiter auf- und auszubauen für Menschen, die, wie sie, nicht mehr weiter wussten und für die es „oben“ keine Chance mehr auf ein glückliches Leben gab. 

Mary sah noch einmal nach der Kranken und erneuerte die kühlenden Umschläge. Die Medikamente, die Vater der Fremden verabreicht hatte, schienen zu wirken, denn sie atmete sehr viel ruhiger und schlief fest. „So ist es gut“ flüsterte Mary, „schlaf dich gesund.“ Sie betrachtete Stella für einen Moment. Wie hübsch sie war, trotz der Blässe und der dunklen Augenringe. Hoffentlich war ihr Charakter genauso schön. Mary wollte nicht bereuen müssen, sie hierher gebracht zu haben. Doch so, wie sie ihren Pflegling aufgefunden hatte, schien sie auch nicht gerade in einen Glückstopf gefallen zu sein. Woher diese Frau wohl kam? Wie hieß sie und was hatte sie in die Tunnel verschlagen? Während Mary darüber nachgrübelte, kam Rebecca mit Stellas Sachen über dem Arm aus der Ecke. Sie legte den Apfel, den sie in der Manteltasche gefunden hatte, auf den Nachttisch und zeigte Mary die Skizzen: „Sieh dir das mal an!“ Die ältere der beiden Frauen blätterte erstaunt in dem Block. „Das ist ja unglaublich! Die sind wunderschön!“ Rebecca zog das letzt Bild hervor und legte es obenauf: „Und was sagst du hierzu?“ Mary blickte sprachlos auf: „Das ist Jacob! So langsam fange ich an, misstrauisch zu werden, Rebecca! Irgendwo muss sie den Jungen ja gesehen oder getroffen haben, sonst hätte sie ihn nicht so brilliant zeichnen können, oder was meinst du? Ob sie schon länger hier unten rumspioniert?“ Die Jüngere zuckte die Schultern. Mary legte den Block wieder in die alte Tasche und sah nachdenklich auf die Kranke. Zur Zeit bestand sicher kein Grund, sich Sorgen zu machen. Die Frau war im Moment nicht in der Lage, irgendeinen Schaden anzurichten, egal, welcher Art. Wenn es ihr allerdings morgen oder übermorgen ein klein wenig besser ging, würde sie sich ein paar Fragen gefallen lassen müssen.  

Die beiden Frauen verließen das Zimmer, um die Kranke in Ruhe schlafen zu lassen. Mary musste sich auch wieder um die Kinder kümmern. Sie bat Rebecca, ab und zu nach der Patientin zu sehen, dann machte sie sich wieder auf den Weg zum Wasserfall. 

Am See unter dem Wasserfall war tatsächlich ein kleines Floß entstanden. Als Mary wieder zurückkam, waren die Burschen gerade dabei, es zu Wasser zu lassen. Der kleine Jacob stand daneben und beobachtete das Treiben. Er hielt einen Hammer in der Hand und strahlte über das ganze, völlig verdreckte Gesichtchen. Als er Mary sah, lief er auf sie zu und rief aufgeregt: „Ich hab einen Nagel in ein Brett geschlagen! Ganz allein!“ Eric maulte dazwischen: „Ja, und meinen Daumen hat er gleich mitgetroffen. Ich hab den Nagel nämlich festgehalten!“ Jacob schaute verschämt auf seine Schuhspitzen und wurde rot. „Na, es war doch mein erster Nagel und entschuldigt hab ich mich doch auch!“ Mary musste schmunzeln. Sie wuschelte durch Eric’s Haar und meinte: „Na, dann seid ihr beide ja jetzt quitt, nicht wahr?“ Dann begutachtete sie das Kunstwerk und ließ sich geduldig einige Dinge erklären.  

Sie zuckte zusammen, als sie Jacobs quietschende Stimme vernahm, der lauthals „Daddy!“ krähte und auf eine riesige Gestalt, die den gesamten Zugang ausfüllte, zurannte. Der Mann lachte leise in sich hinein und fing den kleinen Wirbelwind auf. Er stemmte den Zwerg kurz in die Höhe, bevor er ihn auf den Arm nahm und an sich drückte. Er sah seinem Sohn liebevoll in das verschmierte Gesicht.  

Das Herz ging ihm auf, doch in seiner Magengrube krampfte sich gleichzeitig etwas schmerzhaft zusammen. Wie ähnlich der Fünfjährige doch seiner Mutter sah! Der Kleine hatte zwar die gleichen aquamarinblauen Augen wie er selbst, aber das dunkle Haar, in dem einige blonde Strähnen golden schimmerten, die vollen Lippen und die kleinen, kräftigen Hände hatte er von seiner Mutter geerbt. Obwohl Jacob sie nie kennenlernen durfte, war er ihr auch in seiner ganzen Gestik und Mimik so verdammt ähnlich. Es machte den Mann unendlich glücklich, in dem Kind die Frau wiederzuerkennen, die er so sehr geliebt hatte. Andererseits zerriss ihm der Gedanke an ihren tragischen Tod immer wieder aufs Neue das Herz. Aber dafür konnte der Junge ja nichts. Er liebte seinen Sohn über alles, vermutlich weil er so hart hatte um den Kleinen kämpfen müssen. Man hatte ihn dem Leib seiner Mutter förmlich entrissen und unmittelbar nach seiner Geburt entführt. Es hatte lange gedauert und die Hilfe einer engagierten Freundin bedurft, bis er seinen Sohn endlich nach Hause bringen konnte. 

Mit tiefer, sonorer Stimme fragte er: „Na, Jacob, was hast du heut gemacht? Hast du fleißig lesen geübt?“ Der Kleine hob den Hammer in die Höhe, den er immer noch in seiner Hand hielt und sagte stolz: „Ich hab Eric auf den Daumen gehauen!“ Dann stutzt er: „Nein, ich hab einen Nagel gehauen und Eric’s Daumen geschlagen!“ Verwirrt schaute der Mann seinem Sohn ins Gesicht und nahm ihm sanft das Werkzeug aus der Hand, bevor noch ein weiteres Unglück geschehen konnte. „Du hast WAS?“ fragte er entsetzt. Mary kam lachend auf die beiden zu und stellt die Sache richtig. „Mach dir keine Sorgen, Vincent“, beruhigte sie den Vater des Kleinen. „Es ist alles halb so wild. Der Daumen ist noch dran und die beiden haben sich schon wieder vertragen. Und um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, Jacob hat lesen geübt und er macht große Fortschritte. Er hat sich nämlich fest vorgenommen, dich zu Weihnachten beim Vorlesen von Dickens „Weihnachtsgeschichte“ abzulösen“ Vincent schmunzelte, aber der Junge nickte mit ernster Miene. Dann fragte: „Darf ich jetzt wieder zu den anderen? Die lassen gleich den Floß ins Wasser!“ Vincent stellte den Sohn wieder auf seine eigenen Beine: „Es heißt ‚das’ Floß! Ja, du darfst, aber du nimmst besser kein Werkzeug mehr in die Hand. Und bleib vom Wasser weg!“ „Ja, Daddy! Äh, nein! Ja, mach ich!“ rief er, während er schon zu den Anderen hüpfte. An Mary gerichtet meinte Vincent: „Ich habe gehört, Vater hat jetzt Ernsthafteres zu versorgen als blaue Daumen?“ Die Frau nickte und berichtete ihm von Stella. Er hörte ihr schweigend zu und meinte dann: „Ich bitte dich, herauszufinden, durch welche Tunnel sie bis hierher gekommen ist. Es sind doch eigentlich immer alle Ausgänge bewacht Wir müssen irgendein Schlupfloch übersehen haben.“



[editiert: 13.11.09, 23:56 von sheena]

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sheena
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New PostErstellt: 13.11.09, 23:37  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

wie löscht man einen eintrag? vermutlich gar nicht, oder?



[editiert: 13.11.09, 23:58 von sheena]
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krümmel
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New PostErstellt: 14.11.09, 01:48  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

    Zitat: sheena

    wie löscht man einen eintrag? vermutlich gar nicht, oder?

Löschen können wir garnicht, das können nur die Admins - wir können den Beitrag nur editieren - du kannst ihn natürlich auch weg, also auch leer editieren




Batb - "The wreck of my memories"
(Song of Orpheus, Staffel 1)
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schneeeule
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New PostErstellt: 14.11.09, 20:58  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Ich hoffe hier geht es bald weiter. Bin so gespannt.





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sheena
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9. Kapitel – Neue Freunde 

Stella lag vier Tage im Fieber. Was um sie herum geschah, nahm sie teilweise nur wie in einen Kokon gehüllt wahr. Das Atmen war Schwerstarbeit. Heftige Hustenanfälle ließen sie mehrmals das Medikament erbrechen, so dass es nur schwer zu Wirkung kommen konnte. Der Magen rebellierte auf Grund der spärlichen Ernährung im letzten viertel Jahr sogar gegen die Hühnersuppe, die man versucht hatte, ihr einzuflößen. Doch die Menschen um sie herum versuchten alles, was ihnen möglich war, um zu helfen und zu lindern.  

Vater war bei seinem nächsten Besuch schon nicht mehr so brummig. Mary hatte er ja schon beim letzten Wort seiner Moralpredigt verziehen gehabt. Ihm war eigentlich von Anfang an klar, dass sie aus Nächstenliebe und Pflichtbewusstsein gehandelt und richtig entschieden hatte. Aus der Bronchitis war nun doch eine handfeste Lungenentzündung geworden, die er nur schwer in den Griff bekam. Angesichts der kleinen, so zerbrechlich wirkenden Person regte sich wohl auch in ihm ein wenig der Beschützerinstinkt. Er spürte, dass die junge Frau Angst hatte, zu ersticken und versuchte, sie so gut, wie es ihm möglich war, zu trösten und zu beruhigen. Mary und Rebecca wechselten sich in der Pflege ab. Eine von den beiden Frauen war immer bei ihr. Die Kinder brachten Essen. Bei der Gelegenheit warfen sie natürlich auch neugierig einen Blick auf die Fremde. Leise tuschelnd standen sie an Stellas Krankenbett und mutmaßten, wer sie wohl war und woher sie gekommen sein mochte. Die Mädchen bewunderten das wunderschöne, lange, blonde Haar. Die Jüngeren malten Bilder und stellten sie ihr auf den Nachttisch. Jacob stand manchmal einfach nur so an ihrem Bett und betrachtete sie, bis Mary ihn dann flüsternd zu den anderen schickte, damit er seine Aufgaben erledigte. Aber er fand oft einen Vorwand, um sich wieder in Mary’s Kammer aufhalten zu können. Als er am Abend des dritten Tages kam, um sich gemeinsam mit den anderen Kleinen seine Gute-Nacht-Geschichte abzuholen, hatte er ihr sein Lieblingsspielzeug aufs Kissen gelegt – eine kleine Puppe mit freundlichem Gesicht, niedlicher Stupsnase und blondem Haar. Er meinte, die beiden würden sich so ähnlich sehen und darum wolle er Stella seinen Liebling borgen, bis sie wieder gesund sei. 

Vincent und die anderen staunten, dass sein Sohn dieses Spielzeug hergab, denn seit der Kleine es vor zweieinhalb Jahren in einer Truhe in Vincents Kammer gefunden hatte, schien der Junge mit diesem Püppchen verwachsen zu sein. Ohne, dass er es wusste, trug Jacob ständig ein Andenken an seine Mami Catherine umher. Er hatte jedes Mal Zeter und Mordio gebrüllt, wenn man es ihm abnehmen wollte. Also musste man sich in der Tunnelgemeinde damit abfinden, dass hier unten ein Junge mit einer Puppe unter dem Arm herumlief, aber niemand kam auf die Idee, den Kleinen dafür hänseln, auch die Kinder nicht. Alle wussten, dass seine Mutter Minuten nach seiner Geburt durch eine Überdosis Morphium getötet wurde. Diana, eine Freundin und engagierte Polizistin, hatte den Mord an Catherine aufklären können und dann aus dem Nachlass die erinnerungsträchtigsten Gegenstände zusammengetragen und an Vincent übergeben. So auch das Püppchen. Darüber hinaus hatte sie auch unter Einsatz ihres Lebens den Entführer des kleinen Jacob gefunden. Somit konnte sie Vincent den Weg ebnen, seinen Sohn aus der Gewalt dieses gemeingefährlichen Verbrechers zu befreien und nach Hause in die Tunnelgemeinde zu bringen.  

Seither waren fünf Jahre vergangen. Aus dem Baby, das einen mit einem Blick angesehen hatte, als wüsste es über alles in der Welt bereits Bescheid, war ein intelligenter, aufgeweckter Junge geworden. Er hatte ein freundliches, bescheidenes Wesen und strahlte, obwohl er noch ein Kind war, bereits eine gewisse Charakterstärke und Sicherheit aus, die jeden beeindruckte. Allerdings war er für sein Alter viel zu ernst. Die Streiche und Albernheiten der anderen Kinder beobachtete er meist nur skeptisch und war äußerst selten aktiv dabei. Seine Bewegungen waren flink und geschmeidig wie die seines Vaters. Ebenso hatte er das ausgezeichnete Gehör und die Fähigkeit, im Dunkeln besser sehen zu können als jeder andere Mensch, von Vincent geerbt. Lernen fiel ihm nicht schwer und er tat es gern. Der Junge hatte, trotz seiner Ernsthaftigkeit, eine Art an sich, die jeden noch so mürrischen Griesgram zugänglicher werden ließ, was Vater auf die leicht empathischen Fähigkeiten des Jungen zurückführte. Jacob tat einfach gut und war so etwas wie das Maskottchen in der Tunnelgemeinde. Jeder mochte ihn. 

Stella stieg ein Geruch in die Nase, der sie an Weihnachten erinnerte und sie langsam zu sich kommen ließ. Was war das? Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach der Erinnerung an diesen Duft. Kerzen! Es war der Geruch von Kerzenwachs! Schon wieder ein Traum? Wie kamen Kerzen in ihr Versteck? Ihr fiel ein, dass sie ja zuletzt gar nicht in der kleinen Versorgungskammer gewesen war, sondern sich nass, durchgefroren und halb verhungert an dem unterirdischen Wasserfall auf eine Decke hatte fallen lassen. Aber wieso war ihr dann so wohlig warm? Und woher kam dieser Wachsgeruch! Sie versuchte, die Lider zu heben, aber die Augen zu öffnen war im Moment noch eine unlösbare Aufgabe. Sie hörte das wohlbekannte Klopfen in den Rohren und das Knacken und Knistern von brennendem Holz, spürte die Wärme des Feuers. Sie musste dicht an einem Kamin liegen. Das zu erkennen war nicht schwer. Das Gehirn arbeitete also schon wieder, doch der Körper tat noch nicht wirklich das, was er sollte. Aber sie konnte spüren, dass das, worauf sie lag, nicht ihr harter Apfelsinenkistendiwan war. Sie fühlte eine Matratze im Rücken und ihr Kopf lag auf einem Kissen. Warme, weiche Decken gaben ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Weit, weit entfernt hörte sie Kinder singen. Ein Weihnachtslied! Oh, da war ein falscher Ton dabei! Kurze Pause. Dann begann das Lied von vorn. Stella war völlig konfus. Woher kamen auf einmal Kinderstimmen, die Weihnachtslieder sangen? Das musste ein Traum sein! Nun zwang sie sich, die Augen zu öffnen. Ihr erster Blick fiel auf eine alte Kommode, auf der Bilder auf Häkeldeckchen und ein fast blinder Spiegel standen. So sanft der Schein der überall im Raum aufgestellten Kerzen auch war, er blendete wie Halogenscheinwerfer und zwang dazu, die Augen schnell wieder zu schließen. Stella drehte sich auf die Seite und legte die Hände vor das Gesicht. Das konnte doch nicht sein! Was hatte sie da eben gesehen? Doch so nach und nach sickerte das Bild bis ins Gehirn und ließ ihr bewusst werden, dass es real war. Sie nahm die Hände vom Gesicht und blinzelte, um sich langsam an dieses Licht gewöhnen zu können. Die Kommode mit dem Bildern und dem Spiegel stand immer noch dort! Stella setzte sich auf und sah sich verwirrt um. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie damit den restlichen Nebel aus ihrem Hirn vertreiben. Gott, wo war sie nur? Vermutlich immer noch unter der Erde, das erkannte sie an den felsigen Wänden und beruhigte sie ein wenig. Ihre Hände strichen über die dicke, weiche Patchworkdecke und den Stoff des Nachtshemdes, das sie trug. Langsam lichtete sich der Schleier und die Erinnerung kehrte bruchstückweise zurück. Die Frau, die die Kinder Mary nannten, war bei ihr gewesen und hatte ihr aus den nassen Kleidern geholfen. Sie konnte sich auch an eine kleine Kinderhand erinnern, die zaghaft die ihre gestreichelt hatte. Ebenso an eine brummige Männerstimme, kühlende Umschläge auf ihrer Stirn und leise, beruhigende Worten. Sie wusste noch, wie der bittere Geschmack der Medizin durch den warmen Tee neutralisiert wurde, aber nicht, wie sie in dieses Zimmer gekommen war. 

Stella sah sich um. Es war gemütlich eingerichtet. Das Bett war etwas durchgelegen, aber bequem. Es wurde von einer Art Alkoven aufgenommen, der in den Fels geschlagen worden war. Mit einem Vorhang konnte man es vom übrigen Raum trennen und vor neugierigen Blicken schützen. Rechts neben dem Kopfende stand ein kleiner Nachttisch, auf ihm eine alte Lampe, an die eine kleine Puppe gelehnt saß. Auf der linken Seite hatte man ein Feuerbecken aufgestellt, in dem das Feuer still vor sich hin brannte und Behaglichkeit verströmte. Das Fußende des Bettes wurde durch eine Holztruhe abgeschlossen. Mitten im Raum stand ein großer, beinahe weißgescheuerter Tisch mit mehreren Stühlen. Vermutlich versammelten sich hier des Öfteren Leute. In einer weiteren kleinen Nische lud ein alter, abgewetzter, aber gemütlicher Sessel zu Ausruhen ein. Die restliche Möblierung bestand aus einem Sammelsurium kleinerer und größerer Kommoden. Alles war liebevoll mit Kerzenständern, Bildern, die überwiegend Kinder zeigten, und anderem kleineren Zierrat dekoriert. Auf einem Hocker in der Ecke stand ein Weidenkorb, in dem sich Wäschestücke häuften. Links neben dem Eingang verdeckte ein Paravent ein riesiges Monstrum von Kleiderständer sowie eine kleine Waschecke. Auf der anderen Seite ragte ein merkwürdig aussehendes Regal fast bis zur Decke empor, das mit Büchern vollgestopft war. Wie Stella erkennen konnte, waren es überwiegend Kinderbücher. Daneben war eine Spielzeugkiste deponiert. Wohnte hier ein Kind?  

Stella bemerkte am Eingang zu der Kammer, vor dem eine dicke Zeltplane als Sichtschutz hing, eine kleine Bewegung und zuckte zusammen. Sie zog die Decke mit beiden Händen bis zum Kinn, um sich im Notfall schnellstens darunter verkriechen zu können. Eine ziemlich alberne Aktion, denn wenn ihr jemand etwas hätte antun wollen, wäre das längst geschehen, überlegte sie. Sie ließ die Hände samt Decke wieder sinken und fragte mit belegter Stimme: „Ist da jemand?“. Sie war sich nicht ganz sicher, ob die vermeintliche Bewegung vielleicht nur Einbildung gewesen war. Gespannt beobachtete sie den Eingang. Die Falten der Plane gerieten sanft ins Schwingen, ein schmaler Spalt wurde sichtbar und dahinter die Hälfte eines kleinen Gesichtes. Noch einmal fragte sie: „Hallo? Ist da jemand?“ Der Spalt wurde breiter und ein Junge betrat den Raum. Er blieb am Eingang stehen und schaute ihr ruhig in die Augen. „Ich wollte dich nicht wecken. Nur schauen, ob es dir besser geht.“ Stella war über die ruhige bedächtige Sprechweise des Knaben überrascht. Die meisten Kinder würden in so einer Situation herumstottern oder albern kichern. „Du hast mich nicht geweckt. Komm ruhig näher!“ Sie beobachtete den Jungen, der mit gemäßigten Schritten an das Fußende des Bettes trat und dann auf die Holztruhe kletterte. Er kniete sich auf den Deckel und schaute Stella geradewegs ins Gesicht. Sie erkannte den Jungen wieder: „Du bist Jacob, nicht wahr?“ Er nickte nur und sah ihr direkt in die Augen. Stella bekam bei diesem intensiven Blickkontakt eine Gänsehaut. Der Junge schien ihr direkt in die Seele zu schauen. „Du hast mich doch da oben in meinem Versteck in der Felswand entdeckt, stimmts?“ Er nickte wieder. „Warum hast du mich nicht verraten?“ Der Kleine zuckte die Schultern und entgegnete ruhig: „Weil ich keine Angst vor dir hatte.“ Mit dieser Antwort konnte Stella nicht viel anfangen: „Wie meinst du das?“ Jacob überlegte einen Augenblick und antwortete dann: „Na, wenn ich vor jemandem Angst habe, soll ich Daddy Bescheid sagen. Aber ich hatte keine Angst.“ Stella forschte weiter: „Dein Daddy – ist das der Mann mit den grauen Haaren und dem Bart, der mich gesundgemacht hat?“ Jacob schüttelte den Kopf: „Nein, das ist Vater.“ „Aha“, überlegte sie verwirrt, „Vater ist also nicht dein Daddy?“ Sie erhielt ein Kopfschütteln als Antwort. „Wer ist dein Daddy?“ „Na, Daddy ist Daddy!“ bekam sie mit leicht genervten Unterton zu hören. „Und Daddy passt immer auf alle auf und verjagt böse Menschen!“ Für Jacob war damit dieses Thema erledigt. Er ließ sich von der Truhe gleiten, ging zum Nachttisch und griff nach der Puppe. Dann krabbelte er aufs Bett und hielt ihr das Spielzeug vor die Nase: „Gefällt sie dir?“  Stella nahm vorsichtig die Puppe in die Hand und betrachtete sie lächelnd: „Ja, sehr! Ein hübsches, kleines Ding!“ „Hat Mami gehört.“ erklärte er kurz. Stella fragte skeptisch: „Ist deine Mami auch nicht böse, wenn die Puppe hier bei mir ist?“ Jacob schüttelte den Kopf: „Ich glaube, nicht.“ Sie gab ihm das Spielzeug zurück: „Sollten wir sie nicht besser fragen, ob es in Ordnung ist, dass die Puppe hier ist? Es wäre mir gar nicht recht, wenn die Mami deswegen schimpft.“ Der Kleine drückte seinen Liebling an sich und meinte überzeugt: „Mami schimpft nicht. Mami ist ein Engel und Engel schimpfen nie!“ Mit ein wenig Stolz in der Stimme erklärte er: „Sie wohnt im Himmel, weißt du?“ Stella erschrak. „Das tut mir sehr leid.“ flüsterte sie. Jacob sah sie verständnislos an: „Wieso? Im Himmel ist es doch schön. Mami geht’s gut. Ist nur doof, dass Daddy manchmal so furchtbar traurig ist, weil sie da oben ist und nicht hier bei uns.“ Stellas Augen wurden feucht. Sie kannte diesen Mann gar nicht, hatte aber unendliches Mitleid. Sie streichelte mit einer Hand die kleine Puppe und mit der anderen die Wange des Jungen. Der wischte sich verstohlen mit dem Ärmel über die Nase. Plötzlich hob er den Kopf und lauschte. „Was ist?“ fragte Stella. „William ruft. Abendessen!“ kam die knappe Antwort. Stella konnte beim besten Willen nichts hören. Dazu war vermutlich auch dieses Geklopfe in den Rohren zu laut. Bevor sie Jacob noch irgendetwas fragen konnte, war der schon vom Bett gerutscht und aus der Kammer geflitzt. Stella hörte ein „Hoppla! Langsam!“ und im nächsten Augenblick betrat eine hübsche, junge Frau mit blondem Pferdeschwanz den Raum. „Hallo, ich bin Jamie!“ stellte sie sich vor. „Ich bring dir was zu Essen. Ich hoffe, du hast ein wenig Hunger und magst Gemüsesuppe.“ Sie stand mit einem kleinen Henkelkörbchen in der Hand am Fußende und wartete auf Antwort. Stella horchte in sich hinein und stellte fest, dass tatsächlich ihr Magen knurrte. Sie nickte: „Ja! Ich glaube, ich könnte wirklich was vertragen!“ Jamie lächelte: „Fein! Ich habe auch noch nichts gegessen. Ich dachte, du würdest vielleicht lieber in Gesellschaft essen. Da schmeckt’s doch gleich viel besser, oder?“ Mit flinken Händen deckte sie den Tisch und half dann Stella beim Aufstehen. Sie war noch sehr wackelig auf den Beinen und brauchte einen Moment, um den Schwindel zu überwinden. Jamie half ihr in den Morgenmantel und rückte ihr den Stuhl zurecht. „Hm, das riecht ja wirklich sehr gut.“ staunte Stella. „Wo habt ihr das denn her?“ Jamie überlegte, was und wieviel sie der Fremden erzählen durfte. Doch da sich diese Frau ja schon eine ziemlich lange Zeit in den Tunneln aufhielt und vermutlich auch weiterhin hier bei ihnen wohnen würde, sollte sie ruhig über ein paar Kleinigkeiten Bescheid wissen. Sie musste ja nicht allzu sehr ins Detail gehen. Während die beiden jungen Frauen die Suppe löffelten, erzählte Jamie von der Tunnelgemeinde, den Helfern oben, die sie hier unten mit Lebensmitteln versorgten und von William, dem dicken Koch, der voll und ganz darin aufging, die Leute satt zu machen. Stella war überrascht. Niemals hätte sie gedacht, dass es unter dieser riesigen Stadt noch eine „Stadt“ gäbe. Zwar um vieles kleiner, allerdings mit einer ganz anderen, wie sie fand, besseren Gesellschaftsordnung. Wenn man sich diese Leute in ihrer alten abgetragenen, geflickten oder auch selbst zusammengenähten Kleidung so ansah, kam man in Versuchung, sie zu bedauern. Aber sie waren mit Sicherheit reicher als die Millionäre in ihren protzigen Villen und ihren dicken Bankkonten, denn sie hatten viele wirkliche Freunde und eine Familie, auf die sie sich verlassen konnten. Etwas Wertvolleres gab es auf dieser Welt nicht.  

Stella schaffte in Jamies Gesellschaft fast eine ganze Schüssel der köstlichen Suppe. Sie lehnte sich zurück und strich sich über den fast nicht vorhandenen Bauch: „Ich glaube, ich platze gleich!“ Jamie musste kichern. „Mary und Vater werden sich freuen, dass du endlich essen konntest. Sie haben sich große Sorgen gemacht. Du warst wirklich sehr krank“ Sie räumte das Geschirr zusammen und half Stella dann, sich etwas frisch zu machen. Sie versorgte sie mit frischer Wäsche und schüttelte die Kissen auf. Stella versuchte inzwischen, mit ihrem langen Haar fertig zu werden, aber die Bürste in ihrer Hand wog ihrer Ansicht nach mindestens zwei Zentner. Ihre Arme wurden schwer und machten die Abendtoilette zum Kraftakt. Jamie nahm ihr wortlos die Bürste aus der Hand und ließ sie sanft durch die langen Haarsträhnen gleiten. „Darf ich dich was fragen?“ setzte sie vorsichtig an. „Aber ja!“ entgegnete Stella. Sie vermutete, dass Jamie wissen wollte, was sie in die Tunnel geführt hatte. Aber stattdessen kam die Frage: „Hast du eigentlich gemerkt, dass wir dich schon eine ganze Weile in deiner kleinen Abstellkammer beobachtet hatten?“ Stella drehte sich überrascht zu Jamie um und schüttelte den Kopf. „Ihr habt gewusst, dass ich dort untergekrochen bin?“ Jamie nickte nur. Stella schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich dachte immer, ich hätte mich gut versteckt. Ich hörte zwar Kinder, hab aber gemeint, sie würden dort nur spielen!“ Jamie lächelte etwas verlegen: „Haben sie ja auch. Und dabei entdeckten sie dich! Sie haben Mouse und mir von dir erzählt und wir beide sind dann ab und zu heimlich nachschauen gegangen, wie es dir geht und was du so machst. Ob du vielleicht gefährlich für uns werden könntest.“ „Mouse?“ fragte Stella neugierig. „Ja, Mouse ist mein Freund. Unser aller Freund. Ein lieber Kerl. Handwerklich sehr begabt. Er hat schon vieles hier unten gebaut, was uns das Leben erleichtert.“ Sie zeigte in Richtung Tür. „Dieses Bücherregal dort war eines seiner ersten ‚Machwerke’. Da war er noch ein Junge“ Sie lachte leise. „Es ist zweimal in sich zusammengefallen, bevor er herausbekommen hatte, wie er es anstellen muss, damit es auch stehen bleibt. Heute baut er Alarmanlagen und Sicherheitstüren, die uns vor Eindringlingen schützen!“ Stella hörte Stolz in Jamies Stimme. „Gehört ihr zusammen? Ich meine - liebst du ihn?“ war die nächste Frage. „NEIN!“ lautete die fast erschrockene Antwort, die ein klein wenig zu schnell kam. „Nein, er ist nur mein Freund!“ Eine leichte Röte überzog Jamies Wangen. Stella schmunzelte, bohrte aber nicht weiter nach.  

Auf dem Tunnelgang waren Schritte und Flüstern zu hören, die näher kamen. Die Zeltplane wurde zur Seite geschoben und Mary’s Gesicht erschien. „Oh, du bist ja aufgestanden! Dann geht es dir also besser, ja?“ fragte sie freundlich. Stella nickte: „Oh ja, danke. Es geht mir sehr viel besser.“ Jamie ergänzte lächelnd: „Sie hat einen Teller Suppe gegessen und für den ersten Tag ziemlich viele Fragen gestellt!“ „Das klingt ja schon mal sehr gut! Das wird Vater freuen, zu hören.“ Mary ging auf Stella zu, legte ihr die Hand auf die Stirn und nickte zufrieden. „Aber trotzdem würde ich vorschlagen, du legst dich jetzt wieder hin. Du bist noch sehr schwach.“ Sie half ihr wieder ins Bett und deckte sie zu wie ein Kind. Stella ließ sich das gern gefallen. Diese halbe Stunde Abendessen hatten sie so sehr ermüdet, als hätte sie den ganzen Tag Steine geschleppt. Und so umsorgt wurde sie schon lange nicht mehr. Mary stellte ihr eine frische Kanne Tee auf den Nachttisch und fragte dabei: „Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich die Kinder hereinlasse? Sie versammeln sich jeden Abend hier, damit ich ihnen ihre Gute-Nacht-Geschichte vorlese.“ „Es macht mir ganz und gar nichts aus! Ich liebe Gute-Nacht-Geschichten!“ entgegnete Stella mit leuchtenden Augen. Sie fühlte sich schon wieder in die Kindheit versetzt. „Mary, wer wohnt eigentlich sonst hier in diesem Raum?“ wollte sie wissen. „Ich nehme doch sicher irgendjemandem den Platz weg, oder?“ Während die Kinder leise das Zimmer betraten und sich auf Sessel, Stühlen und Bettkanten setzten, erklärte ihr die Frau: „Das hier ist meine Kammer. Aber im Moment wohne ich bei Elisabeth. Die wirst du auch noch kennenlernen und ihr werdet euch sicher sehr gut verstehen, denn sie malt auch!“ Stella stutzte. Woher wusste die Frau, dass sie zeichnete? Doch bevor sie fragen konnte, erklärte Jamie weiter: „Eigentlich hätten wir dich ja im Krankenzimmer untergebracht, wie sich das gehört. Aber vorige Woche ist im Kinderzimmer ein Rohr geplatzt und alles war überschwemmt. Also mussten wir die Kinder auf das Krankenzimmer und die Gästekammern verteilen.“ Mary machte es sich in dem alten Sessel bequem und nahm eines der Kinderbücher zur Hand. „Im Normalfall lese ich die Gute-Nacht-Geschichte ja im Kinderzimmer vor, wenn die Kleinen alle schon in ihren Betten liegen. Aber da sie alle verteilt sind, machen wir das nun hier.“ Sie zog ächzend die kleine Nicky zu sich auf den Schoß und legte ihr eine Decke um. „Hey, du bist schwer geworden!“ neckte sie und kitzelte die Kleine am Bauch. Das etwa dreijährige Mädchen quietschte lachend auf. Dann kuschelte sie sich an, steckte den Daumen in den Mund und wartete darauf, dass Mary endlich mit dem Vorlesen begann. Jacob griff sich sein Püppchen und drängelte sich zu Stella ans Kopfende. Er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter, als wenn er sie schon jahrelang kennen würde. Diese vertrauliche Geste rührte sie und sie konnte nicht umhin, ihm lächelnd die Wange zu streicheln. Als endlich Ruhe eingekehrt war, begann Mary, aus dem dicken Geschichtenbuch vorzulesen.  

Weitere drei Tage später ging es Stella schon wieder so gut, dass sie fürchterliche Langeweile quälte. Sie hatte sich durch das gute Essen und die liebevolle Pflege schnell erholt und wollte nun endlich wieder aufstehen und etwas tun können. Doch Mary und Vater waren strenge „Eltern“, wie sie die beiden insgeheim nannte, und gestatteten ihr nur ein bis zwei Stunden am Tag, das Bett zu verlassen. Zum Glück kamen öfter einige der Kinder zu ihr und sie spielten zusammen, lasen Geschichten oder malten. Stella hatte inzwischen von fast jedem Kind ein Porträt gezeichnet. Die Knirpse waren damit stolz ins Kinderzimmer getrabt und hatten die Bilder an jeder nur auffindbaren freien Stelle ihres kleinen Reiches aufgehängt. Die Kleinen versuchten sich nun auch in dieser Kunst. Stella hatte ihnen ein wenig über Perspektiven, Licht-Schatten-Wirkung und Zeichentechniken beigebracht. Einige schienen tatsächlich talentiert zu sein. So langsam wurden allerdings die Zeichenblätter knapp und man griff auf die Rückseiten alter, unbenutzter Tapetenrollen zurück, die ein Helfer gestiftet hatte. Überall lagen nun die kleinen  Meisterstücke ihrer Schüler herum, so dass man beschloss, so eine Art Galerie im Schulzimmer einzurichten.  

Während Stella mit den anderen Kindern zeichnete, saß Jacob immer ganz dicht an ihrer Seite und schaute wie gebannt zu. Erzählte sie von ihrer Kindheit in Schweden, von den Großeltern, deren Hof und dem Meer, klebten seine leuchtenden Augen förmlich an ihren Lippen. Er suchte ständig ihre Nähe. Beim abendlichen Vorleseritual verteidigte er vehement seinen Platz an ihrer Schulter. Auch bei seinen Leseübungen durfte nur noch Stella helfen. Es war ihr Mary gegenüber ein wenig peinlich, aber die gutmütige Frau nahm das mit einem nachsichtigen Lächeln hin. Sie hatte noch viele andere Verpflichtungen, so dass es ihr gar nicht so unrecht war, dass Stella ein wenig die Lehrerin spielte. 

Als Vater bei seinem letzten Krankenbesuch feststellen konnte, dass seine Patientin kein Fieber mehr hatte, durfte sie endlich aus dem Bett. Rebecca stattete sie mit geeigneter Kleidung aus, die sie vor der Kälte und der in den Tunneln ständig herrschenden, leichten Zugluft schützen sollte. Während sie Stella beim Ankleiden half, warteten Jacob und Samantha, eines der älteren Mädchen, vor Mary’s Kammer, um Stella zu einer kleinen Tunnelführung abzuholen. Die Beiden zeigten ihr das Kinderzimmer, das gerade wieder eingerichtet wurde. Einige Betten standen schon wieder und zwei Jungen waren dabei, das Spielzeug in Regale einzuräumen. Jacobs Bett stand dicht am Eingang, daneben eine Kiste mit seinen Kleidern. Man fiel benahe beim Betreten des Raumes darüber. Eigentlich sollte er ja auch seine Sachen in den kleinen Schrank räumen, der neben dem Kopfende aufgestellt war, aber er verspürte nicht die geringste Lust dazu. Er wollte eigentlich sowieso nicht wieder ins Kinderzimmer zurückziehen. Während der Überschwemmung hatte er bei seinem Vater geschlafen, das war viel besser gewesen. Dort war gab es so viele interessante Dinge und wenn der Papa auf einem seiner Kontrollgänge durch die Katakomben war, konnte man schön in seinen Sachen stöbern. Morgens durfte er auf sein riesiges Bett krabbeln und hatte ihn dann fast eine Stunde lang ganz für sich allein. Sie hatten geredet und geredet. Er konnte seinen Kummer bei Daddy loswerden und der hatte ihm von seiner Mami erzählt. Jacob verstand nicht, warum er nun wieder zurück sollte. Doch Vincent war der Ansicht, dass es besser für den Fünfjährigen wäre, unter Gleichaltrigen zu sein. Es hatte zwischen ihm und seinem Sohn einen kurzen, aber heftigen Disput deswegen gegeben. Jacob sollte keine Sonderstellung einnehmen, nur weil sein Großvater und sein Vater an der Spitze der Gemeinde standen. Als der Junge merkte, dass sein Daddy hart bleiben würde, hatte er trotzig mit dem Fuß aufgestampft, war anschließend zum Spiegelteich gelaufen und hatte wütend Steine ins Wasser geworfen. Vincent hatte ihm eine Weile Zeit gegeben, sich abzureagieren und war ihm dann gefolgt. Er hatte das kleine, schniefende Kerlchen, das da am Ufer hockte, in den Arm genommen und sanft auf es eingeredet.  Er verstand ja seinen Wunsch, aber jetzt durfte auf keinen Fall nachgegeben werden. Als Jacob sich bockig Vincent’s Arm von seiner Schulter schüttelte, änderte dieser seine Strategie. Mit Strenge hatte er nichts erreicht, also packte er den Knaben bei der Ehre, machte ihm klar, dass seine Zimmerkameraden ihn doch so vermissen würden und traurig wären, wenn er nicht mehr bei ihnen wohnen wolle. Das konnte Jacob nun auch wieder nicht zulassen. Also hatte er, aber nur, um dem Vater und seinen Freunden einen Gefallen zu tun, maulend seine Sachen gepackt und ins Kinderzimmer getragen. Aber das war’s dann auch schon mit seiner Einsicht. Um seinen Protest auszudrücken, ließ er die Kiste einfach mitten im Weg auf den Boden plumsen, drehte sich auf dem Absatz um und ging ohne Umwege zu Stella, um sich von ihr mit Geschichten ablenken und trösten zu lassen. Und so, wie er die Kiste hatte fallen lassen, blockierte sie noch immer den Eingang zum Kinderzimmer und würde es wohl auch noch weiterhin tun, wenn hier nicht irgendwann ein Erwachsener ein Machtwort sprach. 

Die Führung ging weiter durch sauber gefegte und beleuchtete Tunnelgänge, wie Stella sie schon am Wasserfall kennengelernt hatte. Jacob wollte natürlich unbedingt zum Spiegelteich und zur Flüstergalerie. Samantha zeigte ihr das Krankenzimmer und ihr eigenes kleines Reich. Fast jeder Erwachsene hier unten hatte seinen eigenen Raum, den er sich so schön und individuell wie möglich einrichten konnte. Danach ging es in die Küche. Hier versuchte ein unglaublich dicker Koch hektisch, vier Feuerstellen unter Kontrolle zu halten, um nichts anbrennen zu lassen. Der schwitzende Mann, den alle William nannten, nickte den Dreien nur kurz lächelnd zu und kümmerte sich dann wieder um die Töpfe, die ebenso gewaltige Ausmaße hatten wie der Küchenchef. 

Die beiden Kinder führten Stella dann weiter zur Rohrkammer, der Kommunikationszentrale. Dort herrschte Pascal, der, einer Spinne gleich, sich blitzschnell in dem Gespinnst von Leitungen hin- und herbewegte und wie ein Schlagzeuger mit zwei eisernen Stangen Nachrichten an die Rohre trommelte. Der kleine Mann mit der Glatze und den etwas abstehenden Ohren war ihr sofort sympathisch, wenn er auch irgendwie geistesabwesend zu sein schien. Er war sehr bemüht, Stella  das System zu erklären, unterbrach sich aber oft mitten im Satz, weil ihm dann in diesem Moment die Klopfzeichen in den Leitungen wichtiger waren als sein Gast. Man spürte, dass er für seine Arbeit lebte und sie ihm sehr viel bedeutete. Dieses Kommunikationssystem war ja auch enorm wichtig für die unterirdische Gemeinde, da mit dessen Hilfe schon viele Gefahren rechtzeitig erkannt und abgewehrt und sogar Leben gerettet werden konnten.  

Stella beeindruckte die Geschwindigkeit, mit der Pascal zwischen den Leitungen hin und her huschte, an den Rohren horchte und im Morsealphabet Antworten gab oder weiterleitete. Sie hätte ihn gern noch eine Weile bei der Arbeit beobachtet, wollte aber den fleißigen Mann nicht länger bei seiner wichtigen Aufgabe stören und verabschiedete sich nach einer Viertelstunde. Die Kinder zogen sowieso schon ständig an ihren Ärmeln und wollten weiter. Vater hatte die beiden gebeten, Stella nach der Führung in seine Kammer zu bringen.  

Die drei blieben an einer kurzen, schmalen Treppe stehen, die in den fast kreisrunden Hauptraum hinabführte. Hier also wohnte der Mann, der sie wieder gesund gemacht hatte. Doch er schien nicht da zu sein. Das gab Stella die Gelegenheit, sich einen kurzen Moment umzusehen. Sie stand auf der obersten Stufe und ließ die Atmosphäre des Raumes auf sich wirken, der den Eindruck vermittelte, in der Unterkunft eines Wissenschaftlers aus dem Mittelalter angekommen zu sein. Es hätte sie nicht gewundert, wenn sie hier Vater, in ein Gespräch mit Leonardo da Vinci vertieft, angetroffen hätte.  

Der Durchgang zu der Kammer war vollgestellt mit Gegenständen, die eigentlich niemand brauchte. Aber die Dinge, mit denen Vaters Raum dekoriert war, führte einen auf eine Art Zeit- und Weltreise zu gleich. Zwischen all den Büchern standen aus verschiedenen Kulturen und vergangenen Epochen kleinere Kostbarkeiten, aber auch moderner Kitsch.  

Hatte man den schmalen Korridor passiert, wurde man von der rechten Seite her von der marmornen Büste einer barocken Schönheit begrüßt. Links entlang führte ein breiter, von einem Geländer aus Bücherstapeln begrenzter Mauersims in eine Schlafnische. Eine griechische Statue, die ein Gefäß auf dem Kopf trug, schien Vaters Bett zu bewachen. Hinter dieser Schlafnische befand sich ein weiterer Zugang zu der Kammer. 

Am Fuß der kleinen Treppe stand eine riesige ägyptische Bodenvase. In der linken Hälfte des Raumes bildete ein großer, achteckiger Tisch, der über und über mit Büchern und Plänen bedeckt war, den Mittelpunkt. Er war umringt von fünf verschiedenen Armstühlen.  

Auf einer freien Ecke des wuchtigen Tisches stand ein wunderschönes, altes Schachspiel mit handgeschnitzten Figuren. Eine davon war besonders auffallend. Sie stellte einen vermenschlichten Löwenkopf dar. Gleich daneben war ein Bauer positioniert, der wie Jamie aussah. Beide standen zum Schutz des weißen Königs, in dem man Vater wiedererkennen konnte, in der vorderen Reihe. Miniaturen von Pascal und einem anderen, sehr kräftig gebauten, Mann nahmen die Positionen der Läufer ein. Die Stellung der Figuren ließ vermuten, dass das letzte Spiel gerade begonnen worden war und irgendwann später weitergespielt werden sollte.  

Das andere Ende des Tisches war mit einem Teeservice gedeckt. Auf einem Stövchen dampfte leise eine Teekanne vor sich hin. Daneben standen auf einem kleinen Tablett zierliche Tassen bereit. Genau wie bei den anderen Gegenständen in diesem Raum passten auch sie nicht zueinander. Jede war von anderer Farbe und Form.  

An der Stirnseite des Tisches prangte, einem Thron gleich, ein großer Sessel. Er musste einst ein Prunkstück gewesen sein. Doch nach den vielen Jahrzehnten hatte der weiche, rote Samtstoff sehr an Struktur und Farbe verloren, so dass er an Sitz, Rücken- und den Armlehnen kahle, beigefarbene Stellen aufwies. Die goldenen Tressen waren nur noch verblasste, gelbliche Streifen. 

Die rechte Hälfte des Zimmers war wohl so etwas wie ein Büro. Dort stand ein monströser Schreibtisch, auf dem eine gewisse Ordnung herrschte. Die Wand dahinter wurde fast vollständig von einem gigantischen, reich mit Holzschnitzereien verzierten, Bücherschrank verdeckt. An den Wänden oder auch mitten im Raum standen, wie auch in Mary’s Kammer, altmodische Sideboards , selbstgebaute Regale, antike Vertikos und Buffettschränke so wie wunderschön verzierte Truhen. Sie versuchten, mehr oder weniger erfolglos, Unmengen an Büchern zu fassen – darunter teilweise sehr wertvolle literarische Antiquitäten, gemischt mit den billigsten Schmökern, Groschenromane, die man einmal las und dann wegwarf. Zwischen all dem Durcheinander standen dicke, flackernde Stumpen auf ausgedienten Tellern, lange, schlanke Kerzen in angelaufenen Kandelabern und alte Tiffanylampen, die dieses malerische Durcheinander in ein warmes Licht tauchten und Gemütlichkeit aufkommen ließen.  

In ungefähr zweieinhalb Metern Höhe umrundete eine Art Galerie den enorm großen, gewölbeähnlichen Raum. Zwei Treppen führten hinauf – eine eiserne Wendeltreppe, die sich an der Wand gegenüber der kleinen, schmalen Zugangstreppe befand, und eine kleinere Holzstiege etwas weiter links im Raum. Dort oben befanden sich zwei weitere Tunnelzugänge. Die Brüstung des balkonähnlichen Gebildes setzte sich aus mehreren verschiedenen Elementen zusammen. Es mussten früher einmal Balkongitter, Zaunfelder und Treppengeländer gewesen sein. Die Empore, die aus Abfallholz zusammengezimmert worden war, wurde von unten durch mehrere, dicke Balken und Säulen sowie einen alten Kleiderschrank gestützt. Auch hier lagen in hohen Stapeln Bücher und Zeitschriften, so dass sich der Boden bereits gefährlich durchbog. Der Geruch und der Anblick dieser Büchermassen erinnerte Stella an eine Bibliothek. Sie wünschte sich, hier mal ein wenig herumstöbern zu dürfen. Wenn nur diese Unordnung nicht wäre!  

„Wer ist denn da?“ hörte Stella die ihr bereits bekannte Stimme des alten Arztes, aber sehen konnte sie ihn nicht. Jacob hatte seinen Großvater allerdings bereits entdeckt und schlängelte sich an einem großen Standglobus vorbei durch die Bücherberge. „Opa, wir bringen dir Stella.“ Vater tauchte hinter einem alten Sideboard auf und schaute wie immer über den Brillenrand hinweg in Richtung Eingang, wo Stella noch immer mit offenem Mund stand und über die Bücherflut staunte. „Das ist lieb von euch, mein Junge. Nun geh mit Samantha mit. Soweit ich mich erinnern kann, solltest du doch deinen Schrank wieder einräumen. Sie wird dir helfen.“ Augenblicklich verwandelte sich Jacobs freudiges Gesicht in einen Flunsch. Er ließ die Schultern sinken und trottete mit hängendem Kopf seiner großen Freundin hinterher. Vater sah ihm mitleidig lächelnd nach und seufzte leise. Doch sein Adoptivsohn hatte entschieden, also konnte er nicht dagegenreden. Außerdem hatte Vincent Recht.  

Dann wandte er sich an Stella: „Komm her zu mir und setz dich! Ich möchte mich gern mit dir unterhalten und dich besser kennenlernen.“ lud er sie mit einer freundlichen Geste ein. Stella erfasste ein unangenehmes Gefühl. Sollte das hier ein Verhör werden? Er kannte sie doch schon von den Krankenbesuchen, wo er ihr bereits Löcher in den Bauch gefragt hatte. Was hatte der Mann denn vor? Sie wegjagen? Leichte Panik erfasste sie. Er war doch bis jetzt immer so freundlich, wenn auch reserviert, gewesen! Aber er hatte „kennenlernen“ gesagt. Das wollte sie als gutes Zeichen werten. „Mary hat uns Tee gemacht. Möchtest du?“ Als wenn sie auf ihr Stickwort gewartet hätte, betrat Mary den Raum. Sie brachte Gebäck. „Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn Mary sich zu uns setzt?“ Stella hatte absolut nichts dagegen, denn sie hatte schon längst zu der gütigen Frau Vertrauen gefasst und fühlte sich in ihrer Gegenwart nicht ganz so unsicher. Sie setzte sich in einen der kleinen Armstühle und nahm dankend die gefüllte Teetasse entgegen, die zu ihrem Erstaunen aus feinstem chinesischem Porzellan gemacht war. Diese Welt hier unten überraschte sie in einem Fort. Vater hatte ihren verwunderten Blick bemerkt und meinte lächelnd: „Tja, so manch einer weiß gar nicht, was er da wegwirft!“ Stella nickte nachdenklich und bemerkte leise: „Ja, und ich habe auch einmal dazugehört.“ Vater räusperte sich und setzte sich der jungen Frau direkt gegenüber, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können. Er hatte vor, herauszubekommen, wie ehrlich und vertrauenswürdig sie war. Das konnte er am besten aus der Mimik seines Gegenübers herauslesen. Er machte es sich in seinem großen Lehnstuhl bequem, nahm ebenfalls seine Teetasse und schaute Stella mit forschendem Blick in die Augen: „Wie meinst du das?“. Die junge Frau seufzte und begann, ihre Geschichte zu erzählen.



[editiert: 14.11.09, 22:35 von sheena]
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sheena
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New PostErstellt: 17.11.09, 10:20  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

10. Kapitel – Vater und Sohn 

Anfangs hatte Stella keine Probleme, Vater und Mary von ihrem früheren Leben zu berichten. Als sie David damals auf einer Studienreise in die USA kennenlernte, war ihre Welt noch in Ordnung. Sie war in der Hotellobby über einen Koffer gestolpert und ihm genau in die Arme gefallen. Bei der Erinnerung an das umwerfende Lächeln des großen, gutaussehenden Mannes mit den breiten Schultern, an die charmante Einladung zum Abendessen und an die folgenden Tage in seiner Begleitung, die so aufregend und unvergesslich für sie waren, konnte Stella sogar lächeln. Sie erzählte von der traumhaften Verlobungszeit und der romantischen Hochzeit mit nahezu 200 Gästen, von dem Glück, dass sie beide empfanden, als sich der Nachwuchs ankündigte. David hatte seine kluge, wunderschöne, blonde Schwedin auf Händen getragen und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Niemand war so stolz auf den Sohn wie er. Zum Dank für die anstrengende Schwangerschaft und die komplizierte Geburt des fast acht Pfund schweren Stammhalters überschüttete der junge Vater sie mit Geschenken. Er baute für die kleine Familie ein wunderschönes Haus und sorgte für allen erdenklichen Komfort und Luxus. Aber all das finanzierte er mit Geldern aus schmutzigen Geschäften wie Drogen- und Waffenhandel. Als Stella zu diesem Kapitel in ihrem Leben kam, wurde ihre Stimme immer leiser und sie brachte die Worte nur schwer über die Lippen. Von den Misshandlungen durch David konnte sie nur mit Unterbrechungen erzählen, weil sie immer wieder um Fassung ringen musste. Als sie allerdings von Jared berichtete, bahnten sich die Tränen mit aller Macht ihren Weg. Die schmerzliche Erinnerung an den Jungen mit der gegen sie erhobenen Hand, den sie an den gewalttätigen Vater verloren hatte, überwältigten sie.

Mary war während Stellas Bericht aufgestanden und wanderte, ihr Taschentuch knetend, im Zimmer umher. Vater saß mit gesenktem Kopf in seinem Lehnstuhl und wischte sich mit einer Hand verstohlen über die Augen. Dass die junge Frau mit ihrer Behauptung, von ihrem Mann schlecht behandelt worden zu sein, stark untertrieben hatte, wusste er von den Untersuchungen. Er hatte die Narben mit eigenen Augen gesehen. Stella hatte eine kurze Pause eingelegt, um die Tränen zu trocknen und sich die Nase zu putzen. Sie atmete tief durch und trank ihren Tee aus. So nach und nach beruhigte sich die aufgewühlte Stimmung im Raum wieder. Etwas gefasster erzählte sie dann den Rest ihrer Geschichte, von der Flucht aus dem Krankenhaus bis zu dem Moment, wo sie am Wasserfall durch die absolute Erschöpfung und Unterkühlung eingeschlafen war. Den Rest kannten Vater und Mary selbst. Als Stella mit ihrer Geschichte fertig war, sah sie gespannt von einem zum anderen und wartete auf deren Reaktion. Mary schien noch völlig ergriffen zu sein und Vater hatte grübelnd die Stirn in Falten gelegt. Keiner sagte ein Wort. „Vater“ unterbrach die junge Frau die Stille, „Rebecca und Jamie haben mir erzählt, dass es sehr schwer ist, in eure Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Ich erwarte das auch gar nicht. Dazu kennt ihr alle mich ja auch noch nicht gut genug. Sowie ich wieder bei Kräften bin, werde ich verschwinden und euch nicht mehr stören, das verspreche ich dir! Aber ich bitte dich: lass mich wenigstens über den Winter weiterhin in meiner kleinen Abstellkammer wohnen.“ Sie blickte flehend in Vaters prüfende Augen und wartete, innerlich betend, auf seine Antwort. Vaters Blick wanderte von einer Frau zur anderen und wieder zurück. Die Augen seiner ältesten Freundin sahen ihn in der gleichen Weise an wie die der jungen Frau. Eigentlich hatte er seine Entscheidung schon getroffen, aber er entgegnete mit bedauerndem Ton: „Weißt du, Stella, unser Gesetz fordert in solchen Angelegenheiten die Einberufung des Rates. Nach dem Mittagessen sind hoffentlich alle Ratsmitglieder in der Nähe. Ich werde dir noch vor dem Abendessen die Entscheidung mitteilen, einverstanden?“ Er tätschelte beruhigend ihre Hand und zwinkerte ihr mit einem Lächeln zu. Stella hörte Mary laut aufatmen. Das konnte eigentlich nur Gutes bedeuten. Auch der Blick der lieben Frau war sehr zuversichtlich.

Plötzlich hörte man in dem Tunnelzugang auf der Galerie Unruhe aufkommen. Zwei von den älteren Jungen, Eric und Kipper, kamen atemlos in den Raum gestürzt und riefen aufgeregt: „Vater, du musst kommen! Mouse hat die neue Alarmanlage ausprobiert und einen schlimmen elektrischen Schlag bekommen.“ Der alte Mann verdreht die Augen und seufzte laut: „Nicht schon wieder! Mary, bitte  begleite mich, ja? Hach, dieser Bengel bringt mich noch ins Grab mit seinen Verrücktheiten! Oder er steigt noch vor mir in die Grube!“ Kopfschüttelnd griff er nach seinem Gehstock und humpelte, so schnell er konnte, in Richtung Ausgang. Mary griff hastig nach dem alten Arztkoffer und fragte im Hinausgehen: „Findest du allein in meine Kammer zurück?“ Stella fragte statt zu antworten: „Kann ich euch irgendwie helfen?“ Mary überlegte kurz und entgegnete: „Kümmere dich ein wenig um die Kinder, ja?!“ Stella nickte nur und war im nächsten Augenblick allein. Während sie die Tassen zusammenräumte und auf das kleine Tablett stellte, fiel ihr Blick auf das Schachspiel. Die Figuren faszinierten sie. Es waren wunderschöne Schnitzereien. Sie nahm die Figur des Königs in die Hand und betrachtete sie genauer.

Derjenige, der diese Miniaturen angefertigt hatte, musste ein wahrer Künstler sein. Sogar Vaters Blick über den Brillenrand hatte er genau getroffen. Die Haarsträhnen in Jamies langem Zopf waren genauestens herausgearbeitet und die Figur des Pascal schien jeden Moment mit den Eisenstangen lostrommeln zu wollen. Ein großes Rätsel war ihr allerdings der Springer mit dem löwenähnlichen Gesicht. Wen oder was hatte der Holzschnitzer mit dieser Figur darstellen wollen? Waren ihm die Vorbilder ausgegangen und er hatte sich daher eine Märchengestalt ausgedacht? Oder liebte Vater vielleicht eine besondere Geschichte, in der so ein Wesen vorkam? Dieses Gesicht war so rätselhaft. Es hatte etwas Majestätisches und trotzdem Gütiges an sich. Die Melancholie in den tiefliegenden Augen rührte einen ans Herz. Stella strich mit den Fingerspitzen sanft über die wilde Mähne, die dieses Gesicht umrahmte. Vorsichtig stellte sie den Springer wieder auf seine Position und verließ nachdenklich Vaters Kammer.

Stella wollte zunächst einmal im Kinderzimmer nach dem Rechten schauen und eventuell Jacob beim Auspacken seiner Kleiderkiste helfen. Aber der große Raum war leer, die Kiste war verschwunden und Jacobs Sachen lagen ordentlich zusammengelegt in dem kleinen Schränkchen. Stella überlegte, wo die Kinder wohl sein konnten und wollte es als nächstes im Schulzimmer versuchen. Auf dem Weg dorthin hörte sie plötzlich leise eine Melodie durch die Tunnel. Sie blieb stehen und lauschte. Es klang wie eine Spieluhr, denn es war immer dieselbe Tonfolge. Woher kam das? Stella ging bis zum nächsten Durchgang, der in einen Korridor mündete, ähnlich wie vor Vaters Kammer. So leise wie möglich ging sie auf den dahinter liegenden Raum zu. Die Melodie wurde lauter. Sie hatte sich also nicht geirrt. Vorsichtig trat sie an den Eingang und sah von dort aus Jacob auf einem riesigen Bett hocken. Er saß im Schneidersitz in die Kissen gekuschelt und presste einen silbernen Bilderrahmen an seine Brust. Neben ihm dudelte eine Spieluhr in Form eines kleinen Karussells immer wieder die gleiche Melodie. Leise, um ihn nicht zu erschrecken, fragte sie: „Jacob, was machst du denn hier so ganz allein? Ist alles in Ordnung?“ Der Junge nickte wortlos mit dem Kopf. Stella trat zögernd ein und setzte sich zu Jacob auf die Bettkante. Sie streichelte sanft sein Gesicht: „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Du siehst so traurig aus!“ Der Junge nickte wieder und flüsterte: „Ich denke nur grad an meine Mami.“ Er lockerte die Umklammerung des Bildes und ließ Stella einen Blick darauf werfen. „Das ist deine Mami?“ fragte sie flüsternd. Jacob nickte wieder nur. Stella schaute erstaunt zwischen dem Foto und Jacobs Gesicht hin- und her. Er war das Ebenbild seiner Mutter – bis auf die Augen! Die hübsche, junge Frau auf dem Foto lächelte mit vollen, roten Lippen sanft in die Kamera. Das zarte Gesicht wurde von rotbraunem Haar umschmeichelt. Die langen, schwarzen Wimpern umrahmten wunderschöne, graugrüne Augen, in deren Blick eine rätselhafte Melancholie lag und Stella an irgendjemanden erinnerte. Sie überlegte angestrengt, bei wem sie das letzte Mal diesen Gesichtsausdruck gesehen hatte, kam aber nicht drauf. Die Liebe und Zärtlichkeit, die diese Augen aussandten, konnte man beinahe spüren. Wenn ihr Charakter genauso schön gewesen war wie ihr Gesicht, dann verwunderte es Stella nicht, dass sie bei allen hier unten so beliebt gewesen war. Dass der Kleine und sein Vater diese Frau hatten hergeben müssen, tat ihr unendlich leid. Sie hätte sie sehr gern kennengelernt. „Deine Mami ist eine wunderschöne Frau gewesen. Sie ist bestimmt der schönste Engel im ganzen Himmel.“ flüsterte sie dem Kleinen zu. Jacob strahlte Stella dankbar an, als hätte sie ihm dieses Kompliment gemacht. Sie nahm den Knirps in die Arme und drückte ihn an sich. Überraschenderweise umschlang er sie mit seinen Ärmchen und kuschelte sich an sie, während er weiterhin das Foto betrachtete. So saßen sie unbeweglich beieinander und genossen den Moment. Stella fühlte sich wieder als Mutter und Jacob bekam seine mütterlichen Zärtlichkeiten, die er, wie beinahe jedes Kind hier unten, vermisste. Die gute, alte Mary tat zwar ihr Bestes, aber so intensiv, wie diese Kinder es brauchten, konnte sie ihnen nun doch nicht die ersehnten Streicheleinheiten zukommen lassen. Allerdings hatte Jacob ja im Gegensatz zu den anderen Kindern noch seinen Vater. Es war unverständlich, wieso der Kleine dann so nach elterlicher Zuwendung ausgehungert zu sein schien. Wenn Stella es sich recht überlegte, hatte sie von diesem Mann bisher nur reden hören. Gesehen hatte sie ihn noch nicht. Wo war er? Warum kümmerte er sich so wenig um seinen Sohn? Wieso überließ er Jacob so lange Zeit Mary und den anderen? Sie verstand das nicht. Ein lieberes und unkomplizierteres Kind als Jacob hatte sie selten erlebt. Der Kleine hatte so geweint, weil er wieder in das Kinderzimmer zurück sollte, aber der Vater war hart geblieben. Warum wollte der Mann den Jungen nicht um sich haben? Wie konnte er ihn nur so von sich weisen? Sie seufzte und schüttelte bei diesen Gedanken den Kopf. Wie sehr sie sich irrte, ahnte sie nicht.

Während Stella den Kleinen sanft wiegte und dabei zärtlich seinen Haarschopf streichelte, blickte sie sich ein wenig in der Kammer um. Diese war mit ähnlichen Möbeln ausgestattet wie Vaters Raum. In der Mitte stand ebenfalls ein achteckiger Tisch, der allerdings kleiner war, jedoch genau so mit Büchern und Zeitschriften überladen. Daneben ein großer Armsessel mit ziemlich durchgesessenen Lederpolstern. Auch die Figur am Eingang war die gleiche griechische Wasserträgerin wie die vor Vaters Schlafnische. Die Besonderheit dieses Raumes bestand in einem großen, halbrunden Fenster mit bunter Bleiverglasung. Unter dem Fenster stand das Bett. Eine alte Tiffanylampe hing von der Decke und eine ähnliche stand auf dem Nachttisch. Der Rest der Möblierung bestand, wie auch in den Räumen der anderen Bewohner, aus alten Schränken, ramponierten Kommoden und schweren Truhen. Überall stand gesammelter Zierrat herum, der nicht unbedingt auf seinen Besitzer schließen ließ. Zwischen zerkratzten Schwertern himmelten sich kleine Porzellanengel gegenseitig an und neben einem alten Röhrenradio stand eine angeschlagene Kristallvase mit einer künstlichen, langstieligen Rose. Dazwischen, wie sollte es anders sein, Bücher, Bücher, Bücher!

Am Fußende des Bettes stand ein kleiner runder Tisch mit weißem Spitzendeckchen. Darauf waren eine Vase mit frischen Rosen und eine kleine Büste drapiert, in der sie die Frau von dem Foto wiedererkannte! Daneben brannten auf einem silbernen Kandelaber drei weiße Kerzen. Auf die freie Stelle zwischen den Rosen und dem Kerzenständer gehörte vermutlich der Bilderrahmen, den Jacob zärtlich streichelte.

Stella fiel plötzlich ein, dass sie ungebeten in den privaten Raum eines Fremden eingetreten war und wollte nun lieber wieder diesen Ort verlassen, bevor der Mann, der hier wohnte, zurückkam und sie vielleicht erwischte. Sie löste sich sanft von dem Jungen und stand auf. „Mary hat mich gebeten, nach den anderen Kindern zu sehen. Möchtest du noch hier bleiben oder begleitest du mich?“ fragte sie. Jacob überlegte einen kleinen Augenblick. Dann sprang er vom Bett und stellte die Spieluhr vorsichtig und sorgfältig in einen großen Kleiderschrank. „Daddy wird sonst böse, weißt du!“ erklärte er, während er den Schrank verschloss und den Schlüssel in eine kleine Schatulle legte. „Ich darf die Spieluhr eigentlich nicht nehmen. Er hat sie nämlich von Onkel Devin bekommen, als er noch klein war. Einmal hab ich sie schon fallen lassen und da war sie kaputt. Da hat Daddy mir verboten, sie zu nehmen, wenn er nicht dabei ist.“ Dann schaute er sich um, als kontrolliere er, dass auch ja nichts darauf hinwies, dass er was Verbotenes getan hatte. Stella schmunzelte über seine kindliche Umsicht. Nachdem Jacob sich vergewissert hatte, dass der Papa nichts merken würde, nahm er Stella bei der Hand und zog sie in den Tunnel.

Es war inzwischen Mittag geworden und es duftete nach Gemüsebrühe und Äpfeln. Stella knurrte automatisch der Magen. Sie ließ sich bereitwillig von Jacob, dem es nicht anders zu gehen schien, in Richtung Küche ziehen. Man hörte aus dem großen Gemeinschaftsraum, der einer mittelalterlichen Taverne glich, geschäftiges Treiben. Da nicht allzu viele Plätze vorhanden waren, war es Gewohnheit geworden, die Kinder zuerst essen zu lassen. Diese standen um den großen Kessel herum, in dem William mit einer überdimensionalen Kelle die heiße Suppe umrührte, und warteten ungeduldig auf ihre Mittagsmahlzeit. Rebecca und Jamie versuchten, die kleinen Raubtiere unter Kontrolle zu halten, während Grace und Mary Teller und Besteck heranschafften. Stella griff unaufgefordert zu. Nebenbei fragte sie: „Wie geht es Mouse? Ist alles in Ordnung?“ Mary antwortete: „Ach, der Junge ist hart im Nehmen. Er hat ein paar Verbrennungen an den Händen. Vater hatte ihn kaum wieder auf die Beine gestellt und die Wunden versorgt, da war er schon wieder dabei, sein Projekt zu verbessern, damit so etwas ja nicht noch einmal passiert! Und womöglich noch jemand anderen als ihm!“ Mary lächelte. „Er ist schon ein lieber Kerl. Immer hilfsbereit und um die anderen besorgt.“ Jamie, die zwischen den Kindern stand, hatte Mary’s Lob gehört und freute sich für ihren Freund.  Sie lächelte, als hätten die Worte ihr gegolten und bekam vor Stolz rote Wangen.

William gab den Startschuss zur Essensausgabe. Jedes der Kinder griff sich einen Teller und stellte sich artig in die Schlange. Mit Suppe und Apfel bewaffnet suchte sich jedes einen Platz. Nach dem Tischgebet hörte man nur noch leise Gespräche, genießerisches Schmatzen und Schlürfen. Die Jüngsten wurden gefüttert. Grace hatte ihr Baby auf dem Schoß und versuchte, den Löffel in den Mund ihres kleinen Noah zu bekommen. Dem schien allerdings entweder der Brei nicht zu schmecken oder er hatte keinen Hunger. Jedenfalls fing seine Mami schon an zu schwitzen, weil sie keinen Erfolg mit ihren Bemühungen hatte. Dem Kleinen machte es großen Spaß, mit seinen molligen Händchen nach dem Löffel zu greifen und dabei gleichmäßig das Essen auf der Kleidung zu verteilen. Plötzlich flog der Löffel in hohem Bogen durch die Luft und fiel laut klappernd in die Abfalltonne, die in drei Metern Entfernung an einer Wand stand. Noah quietschte dabei vor Vergnügen und strampelte mit den dicken Beinchen, so dass er fast vom Schoß seiner Mutter rutschte. „Das hältst du also von meinen Kochkünsten!“ brummte William, die Hände in die Seiten gestemmt. Die Kinder lachten laut und die Frauen schmunzelten in sich hinein. Doch der dicke Koch verstand in dieser Hinsicht keinen Spaß und blickte böse um sich. Sofort verstummte das Gelächter und die Köpfe sanken so tief auf die Tische, so dass sie beinahe in die Teller tunkten. Nur Jacob saß aufrecht und stocksteif auf seinem Stuhl und starrte mit offenem Mund hochkonzentriert in die Ferne. Dann ließ er klirrend den Löffel auf den Teller fallen und rannte aus dem Raum.

„Jacob!“ rief Stella dem Jungen verwundert nach und wollte ihm folgen. Doch Mary legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und erklärte: „Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung mit ihm. Er spürt, dass sein Vater heimkommt und läuft ihm entgegen.“ Als sie Stella’s verwirrten Blick bemerkte, erklärte sie weiter: „Die beiden haben ein ganz besonderes Verhältnis zueinander, weißt du? Was der eine spürt, spürt auch der andere, egal, wo sich beide in dem Moment befinden.“ Stella war verblüfft. „Vincent ist oft sehr weit weg von hier, um die Tunnel und die Eingänge zu kontrollieren.“ warf Jamie ein. Mary übernahm wieder das Wort: „Unsere Welt hier unten dehnt sich über, oder vielmehr, unter ganz New York aus. Da wir ja hier unten keine Fahrzeuge einsetzen können, wie die Leute in der Welt über uns, muss Vincent seine Kontrollgänge zu Fuß absolvieren. Das dauert natürlich seine Zeit und manchmal ist er mehrere Tage unterwegs. Dann verfällt Jacob öfter in diese Art von Trance. Man könnte meinen, die beiden würden miteinander telepatisch kommunizieren. Aber es ist doch noch irgendwie anders, da es sich um Gefühle handelt und nicht um Gedanken.“ Nun verstand die junge Frau gar nichts mehr. „Es ist schwer zu erklären.“ entschuldigte sich Mary.  Jamie versuchte, es verständlicher zu machen: „Mary meint, wenn Jacob zum Beispiel Angst hat, dann spürt Vincent diese Angst und spendet ihm mit seinem starken Gefühl der Furchtlosigkeit Trost und Mut, verstehst du? Er kann ihm also helfen, diese Angst zu überwinden, egal, wo er sich gerade befindet. Auf diese Weise teilen die beiden auch Freude miteinander. Vincent kann spüren, ob sein Sohn zufrieden und glücklich ist.“ Stella staunte. „Ich habe über dieses Phänomen zwar schon gelesen, es aber für übertrieben gehalten. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das funktioniert, noch dazu über größere Entfernungen.“ Mary entgegnete: „Die Strecke von Chinatown bis hierher ist noch gar nichts! Vincent hatte zu Jacobs Mutter die gleiche Art von Verbindung. Sie nannten es immer „ihr Band“.  Er hat ihr sogar auf Grund dieser besonderen Gabe über den Kontinent hinweg das Leben retten können.“ Sprachlos schaute Stella von einer Frau zur nächsten, um festzustellen, ob man sie nur auf den Arm nehmen wollte, aber alle nickten bestätigend. Doch auf Grund dieser Erklärungen bekam sie nun so eine Idee, wieso der Mann so selten hier war und es ihn überhaupt nicht zu seinem Sohn zu ziehen schien. Dieser Vincent brauchte sich natürlich keine Sorgen um den Kleinen zu machen, wenn dieser ihm auf diese Art mitteilen konnte, dass alles in Ordnung war. Außerdem wusste er ihn ja auch bei Mary in guter Obhut. So war es ihm möglich, unbeschwert seiner Aufgabe nachzugehen. Wenn sie Jamie richtig verstanden hatte, war er wohl hier unten für die Ordnung und Sicherheit verantwortlich.

Die Kinder waren inzwischen mit ihrer Mahlzeit fertig geworden. Nach dem Essen war eine Chorprobe für die Weihnachtsaufführung angesetzt und alle wollten pünktlich im Schulzimmer sein. Eilig machten sie also Platz für die Erwachsenen, die nach und nach eintrafen. Unter ihnen waren auch Vater und der verarztete Mouse. Der trug demonstrativ seine verbundenen Hände vor sich her. Als Jamie ihn den Raum betreten sah, sprang sie sofort auf und lief ihm entgegen. Der junge Mann bemerkte die Sorge in ihren Augen und beruhigte sie mit einem tapferen Lächeln. Doch er vergaß auch nicht, dabei vor Schmerz das Gesicht zu verziehen, um eine gehörige Portion Mitleid zu bekommen. Jamie nahm für ihn und sich die gefüllten Suppenteller entgegen und brachte sie zu einem freien Tisch. Es war rührend, mit anzusehen, wie sie ihn umsorgte und er ließ sich das gern gefallen. Es kam nämlich nicht allzu oft vor, dass seine Freundin so liebevoll mit ihm umging. Das Mädchen legte normalerweise ihm gegenüber einen ziemlich ruppigen Ton an den Tag. Der blonde, etwas untersetzte junge Mann hörte ihn zwar nicht immer gern, aber er half ihm des Öfteren auf die Sprünge, wenn er sich mal wieder schwer tat, etwas zu begreifen. Es gab allerdings auch Gelegenheiten, da brauchte Jamie noch nicht einmal etwas sagen. Dann reichte es aus, ihn nur mit einem ganz bestimmten Blick anzufunkeln und er gehorchte wie ein Hündchen. Er war schon lange in sie verliebt und würde für sie alles tun. Allerdings quittierte sie seine kleinen Liebesbeweise meist nur mit einem knappen und nicht gerade überschwänglichen „Danke“, was ihn manchmal schon enttäuschte. Wenn er dann schon mal von ihr verwöhnt wurde, genoss er das natürlich auch ausgiebig. Man musste dazu allerdings schon ein bisschen dicker auftragen, denn dieses Mädchen war leider nicht gerade der mitleidige und mütterliche Typ. Und so stöhnte er nun öfter, als unbedingt notwendig, leise auf und kniff vor angeblichem Schmerz die Augen zu. Als Jamie ihm tröstend den Handrücken streichelte, grinste er verschmitzt in sich hinein und hielt ganz still. Diese kargen Zärtlichkeiten musste man unbedingt auskosten!

Vincent war vier Tage unterwegs gewesen, um die Zugänge, Barrikaden und Alarmsysteme der am südlichsten gelegenen Tunnel zu kontrollieren. Er hatte einige Stützbalken erneuern müssen, ein verrostetes Schloss repariert und ein paar Rohre abgedichtet. Am Zugang, der hinter der Subway-Station Whitehall Str. lag, stellte er fest, dass sich irgendjemand zu weit in die Tunnel vorgewagt hatte. So hatte er Geröll und Schutt zusammengetragen und damit eine Sackgasse geschaffen. Es war schwere Arbeit gewesen, die zwei starke Männer ordentlich zum Schwitzen gebracht hätte, aber Vincent zog es vor, solche Kontrollgänge und Reparaturen allein durchzuführen. So konnte er auf dem Weg durch die stillen Katakomben und Tunnel seinen Gedanken nachhängen und brauchte mit niemandem reden. Seit dem Tod seiner geliebten Catherine war er ein sehr introvertierter Mann geworden. Er wollte und brauchte die Einsamkeit, um seinen Gefühlen auch einmal freien Lauf lassen zu können. Wenn er in den Pausen am Feuer saß und seine Gedanken in sein Tagebuch schrieb, dann kam es schon mal vor, dass er weinte oder auch wütend Gegenstände an den Tunnelwänden zerschmetterte.

Obwohl Catherine’s entsetzliche Ermordung jetzt fünf Jahre zurücklag, fehlte sie ihm so sehr, dass er manchmal glaubte, nicht weiterleben zu können. Der Hass auf ihren Mörder, der ihm auch noch seinen neugeborenen Sohn entführt hatte, war nach all den Jahren nicht abgeflaut. Vincent müsste eigentlich Genugtuung verspüren, da der Mann seine gerechte Strafe erhalten hatte, denn er war tot. Aber für seinen Geschmack hatte dieser Verbrecher vorher viel zu wenig gelitten. Die Erinnerung an die sterbende Geliebte in seinen Armen, ihre letzten Worte und ihre streichelnde Hand auf seiner Wange taten ihm immer noch körperlich so sehr weh, dass es ihm fast die Sinne raubte. Jedes Mal dachte er, er könne nicht mehr weiterleben. Aber dann gab ihm ein Herzschlag, der nicht der seine war, den Lebenswillen zurück. Das waren die Momente, in denen er die Lebensfreude oder auch Schmerz und Sehnsucht seines Sohnes fühlte. Der Gedanke an Jacob hatte ihn schon mehrfach davon abgehalten, lebensgefährliche Dummheiten zu begehen. So hatte Vincent am Abend zuvor dicht an einer starkstromführenden Leitung der U-Bahnstrecke gestanden und die Hand bereits ausgestreckt. Der Gedanken, einfach zuzugreifen und es endlich hinter sich zu bringen, war ihm mehr als nur einmal durch den Kopf geschossen. Doch im selben Moment, es musste die Zeit der Vorlesestunde gewesen sein, als Jacob bei Stella auf dem Bett saß und Mary beim Geschichten erzählen zuhörte, sandte ihm der Kleine ein ungewöhnlich starkes Gefühl von Glück und Geborgenheit. Das hatte den Mann dazu veranlasst, erschrocken die Hand wieder wegzuziehen und hastig einen großen Schritt zurückzutreten. Er war hinterher entsetzt über sich selber gewesen, da er doch genau wusste, welch großen Kummer er damit Vater, Jacob und der gesamten Gemeinde machen würde. Vor allem hoffte er inbrünstig, dass sein Sohn die todessehnsüchtigen Empfindungen, die ihn in diesem Augenblick total einnahmen, nicht empfangen hatte.

Am Morgen danach hatte Vincent sich auf den Heimweg gemacht. Seine Gedanken waren bei seinem Jungen. Das schlechte Gewissen trieb ihn schneller als gewöhnlich voran, weil er nicht genau wusste, ob er mit seiner unbedachten Aktion dem Kleinen vielleicht Leid zugefügt hatte. Nichts lag ihm ferner! Er wollte und musste doch als Vater für ihn da sein, ihm Mut und Trost spenden. Wie hatte er sich nur so gehen lassen und diesem Anfall von Lebensmüdigkeit nachgegeben können?! Aber er konnte keine ängstlichen Empfindungen seines Sohnes empfangen, also schien es dem Kleinen gut zu gehen.

Im diesem Augenblick hatte er die oberste Stufe der großen Wendeltreppe erreicht, als ihn ein extrem starkes Glücksgefühl entgegenschoss. Er beschleunigte seine Schritte, rannte fast durch die Gänge. Als er die Treppen der Kammer der Winde betrat, stand auf der obersten Stufe sein kleiner Sohn. Beide blieben einen kurzen Augenblick stehen und sahen sich strahlend in die Augen. Vincent breitete die Arme aus und Jacob flog direkt hinein. „Daddy!“ murmelte der Junge und bemühte sich, seine kleinen Ärmchen um die breiten Schultern des Vaters zu legen. Vincent drückte den Kleinen an sich und wiegte ihn zärtlich hin und her. Beide genossen die Nähe und es bedurfte keiner weiteren Worte, um zu wissen, was der andere jetzt fühlte. Nach einer Weile stemmte sich Jacob leicht von der Schulter seines Vaters und sah ihm ernsthaft ins Gesicht. „Das ist so schön, dass du wieder da bist, Daddy!“ Er drückte seinem Papa einen ziemlich feuchten Kuss auf die Wange. „Ich freue mich auch, dass ich wieder hier bin. Du hast mir gefehlt, mein Kleiner!“ Er sah Jacob prüfend ins Gesicht: „Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?“ Jacob nickte und wollte runtergelassen werden. Er nahm seinem Vater die, für ihn viel zu große, Umhängetasche ab und zerrte sie die Stufen hoch. Dabei erzählte er, was er alles Neues gelernt und Interessantes gesehen hatte. Er berichtete von Stella, die so schön malen konnte, ihm beim Lesenüben half und ihn bei der Abendgeschichte in den Arm nahm. Er schwärmte förmlich von dieser Frau. Aber er erzählte auch von den vielen Bildern, die die Kinder gemalt hatten, dass nun endlich seine Kiste ausgepackt war und auch von dem fliegenden Babylöffel. Vincent ging langsam hinter dem Jungen her und hörte sich mit einem Schmunzeln geduldig das Geplapper an. Er war so froh, dass Jacob anscheinend nichts von seinen absurden Gedanken mitbekommen hatte, denn dann würde der Kleine sich anders verhalten. Und er wusste nun auch, wieso er von Jacob öfter als gewöhnlich dieses Glückgefühl empfangen hatte. Diese Stella schien ja auf den Jungen einen starken Eindruck gemacht zu haben. Man konnte fast meinen, der Kleine hätte sich verliebt. Und mit dieser Idee lag Vincent auch gar nicht so falsch.

Kurz bevor die beiden Vincents Kammer betraten, kam ihnen Kipper entgegen, der einen Zettel in der Hand hielt. Er begrüßte Vincent herzlich und sagte: „Hallo, Vincent! Ich wollte dir gerade eine Nachricht von Vater auf den Tisch legen. Es soll eine kurze Ratsversammlung stattfinden. Du musst natürlich auch kommen. Es geht um Stella und ob sie hier bei uns bleiben darf.“ Vincent legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und antwortete: „Danke, Kipper. Bitte sag Vater, dass ich mich nur schnell wasche und umziehe. Danach komme ich.“ Kipper nickte knapp und wollte schon gehen, drehte sich dann aber noch einmal kurz um und meinte lächelnd: „Schön, dass du wieder da bist.“ Dann wandte er sich um und flitzte davon.

Als Vincent seine Kammer betrat, fiel sein Blick als erstes auf das Bild seiner Cathy, das auf dem Bett lag und nicht an seinem gewohnten Platz stand. Er wusste, dass der Junge sich öfter heimlich hier her verzog, das Foto seiner Mami an die Brust drückte und davon träumte, wie es wohl wäre, wenn sie bei ihnen sein könnte. Es war der gleiche Traum, den auch er sehr oft träumte. Vincent nahm seinen staubigen Umhang von den Schultern und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen. Er nahm das Bild in die Hand und streichelte sanft mit dem Daumen über das kalte Glas. Er bildete sich allerdings dabei ein, er würde Cathy’s zarte Wange berühren. Sehnsüchtig seufzend stellte er den silbernen Bilderrahmen wieder an seinen Platz auf dem kleinen Tisch, zwischen die Rosen und die Kerzen.

Jacob sah seinem Vater schuldbewusst dabei zu und versuchte zu erklären: „Daddy, ich hab… ich wollte...“ Er fand irgendwie nicht die richtigen Worte, darum sagte er einfach nur: „Bitte nicht böse sein!“ Vincent kniete vor seinem Sohn nieder und umfasste mit seinen verhältnismäßig riesigen Händen die schmalen Schultern des Jungen. Er sah ihm verständnisvoll ins Gesicht und sagte sanft: „Aber Jacob, wie könnte ich dir denn böse sein! Du hast alles Recht der Welt, dir die Mami anzusehen und an sie zu denken, wann immer dir danach ist, verstehst du? Nur bitte, geh sorgsam mit dem Bild um. Es ist das Einzige, das wir von ihr haben!“ Jacob schluckte und nickte. Vincent nahm den Kleinen zärtlich in die Arme und drückte ihn fest an sich. Er spürte, wie der Junge aufatmete und lächelte in sich hinein. Dann löste er sich von Jacob und stand schwungvoll auf. „So, dann wollen wir uns mal ein bisschen beeilen. Wenn Vater den Rat so kurzfristig zusammen ruft, dann muss das mit dieser Stella ja ziemlich dringend sein.“ sagte er, während er Wasser aus einer Wasserkanne in eine Waschschüssel goss. Er legte sein Hemd ab und spülte sich den Staub von Gesicht und Oberkörper. Der Rest musste warten, bis er Zeit für ein ausgiebiges Bad fand. Jacob saß auf dem großen Lehnstuhl, in dem er fast versank und sah seinem Papa beim Waschen zu. Er bewunderte die muskulösen Arme und den mächtigen Oberkörper. Er wollte später auch einmal so stark werden. Nur diese vielen Haare auf der Brust wollte er nicht haben. Er erklärte mit wichtiger Miene: „Ja, das ist auch ganz doll wichtig. Stella soll ja weiter hier wohnen, damit sie mir beim Lesenüben helfen kann. Und sie kann so wunderschöne Bilder malen. Und dann erzählt sie immer schöne Geschichten aus ihrer Kinderzeit in Sch….Schwie…Schwe…, na von da, wo sie herkommt. Und sie ist ganz lieb!“ Vincent schüttelte den Staub aus dem Haar, zog sich ein sauberes Hemd und die Steppweste, die seine Schultern noch breiter aussehen ließ, über und legte den obligatorischen Ledergürtel an. Ohne es zu wissen, betonte er damit seine ohnehin schon sehr beeindruckende Figur auf’s Vorteilhafteste. „Na, du bist ja ganz begeistert von ihr! Du willst also, dass sie hier bleibt?“ Jacob nickte eifrig. „Dann wollen wir sie uns doch mal anschauen und hören, wie die Anderen über sie denken.“ Er stand vor seinem Sohn stramm und fragte: „Bin ich sauber? Kann ich so unter die Leute gehen?“ Jacob spielte den strengen Kontrolleur und wies seinen Daddy an, sich zur Begutachtung im Kreis zu drehen. Schmunzelnd tat der große Mann dem Kleinen den Gefallen und spielte mit. Der Junge hatte sich auf den Stuhl gestellt, die Ärmchen in die Seiten gestemmt und machte ein verkniffenes Gesicht. „Na ja, geht so!“ Im nächsten Moment kauerte er sich zusammen, weil er wusste, was passieren würde. Vincent schoss auf ihn zu und kitzelte ihn ab: „Was heißt hier ‚geht so’?! Sowas Respektloses! Na warte, du Früchtchen!“ Jacob quietschte vor Lachen und wand sich in den starken Armen seines Vaters wie ein Aal, allerdings chancenlos. Vincent warf sich den Knaben über die Schulter und verließ den Raum. Auf dem Weg zu Vaters Kammer lud er seine Last im Schulzimmer ab, wo die Chorprobe in vollem Gange war. Danach wollte er noch schnell in der Küche nach etwas Essbaren schauen, damit sein Magenknurren nicht sie Ratssitzung störte. Die Mittagszeit war zwar schon vorbei, aber sein Freund William würde ihm sicher ein Sandwich zurechtmachen.



[editiert: 22.11.09, 11:59 von sheena]
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