Der Traum vom Anderssein
1. Teil
Beinahe völlig lautlos bewegte sie sich durchs Unterholz. Einem Schatten gleich. Nur selten knackten kaum hörbar kleinere Äste unter ihren Schritten. Übermütig sprang sie zwischen den Bäumen umher. Sie sprühte vor Lebensfreude. War da nicht etwas? Einige Meter vor ihr? Dort bewegte sich doch eindeutig etwas? Sie spitzte die Ohren und blickte wie gebannt zu der Stelle. Dann sprintete sie los. Immer schneller wurde sie. Sie schien fast zu fliegen.
Das aufgeschreckte Kaninchen sprang verängstigt in seinen Bau. Darüber war sie keineswegs enttäuscht. Im Gegenteil. Das Kaninchen konnte es nicht wissen, aber ihr war es nicht etwa um Nahrungsbeschaffung gegangen. Das Laufen bereitete ihr einfach riesige Freude. Immer, wenn sie so schnell durch Wälder und über Wiesen rannte, fühlte sie sich so richtig unbeschwert und frei. Beim Laufen spürte sie regelrecht, wie die schweren Ketten, die um ihr Herz lagen, zersprangen. Niemand, der ihr sagte, was sie zu tun oder zu lassen habe. Keine lästigen Pflichten. Niemand, der ihr sagte, sie sei zu alt für solche Albernheiten.
Sie atmete tief durch. Frei. Frei. Endlich mal wieder frei! Freiheit. Wer weiß schon, was Freiheit ist? Für die meisten ist es bloß ein Wort. Sie aber war eine der wenigen, die um die wahre Bedeutung wusste.
Fröhlich - auch wenn man ihr das vielleicht nicht ansah - sog sie die herrlich frische, duftende Waldluft ein. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind in diesem Wald gespielt hatte. Hm... Wald? Naja, eigentlich war es mehr ein kleines Waldstück, das nur aus wenigen Bäumen bestand. Zumindest im Vergleich mit einem richtigen Wald. Aber das war ihr egal. Ihr genügte es.
Was war das für ein unheimliches Geräusch? Da! Da war es schon wieder! Es hallte durch den ganzen Wald. Über ihr knackte etwas. Ihr Blick richtete sich blitzschnell nach oben. In der Baumkrone über ihr saß eine Eule. Jetzt wusste sie, was das für ein Geräusch war. Interessiert blickte sie zu der Eule. Doch schließlich setzte sie ihren Weg fort. Doch halt - was war das für ein Geruch, der ihr plötzlich in die Nase stieg? Sie hielt inne und schnupperte. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Dieser Geruch... das konnte nichts Gutes heißen, oder? Ein wenig ängstlich sah sie sich um. Ihre leuchtend braunen Augen erblickten ein Mädchen am Waldesrand. Das Mädchen schaute zu ihr und sie erwiderte den Blick. Sekundenlang stand sie so da. Dann entschied sie sich, weiterzulaufen. Ohne sich noch einmal umzusehen. Nein, noch wollte sie nicht zurück- zurück in den "Käfig" namens Zivilisation.
Alles auf Anfang - oder: Zurück zu den Wurzeln
Lupina drehte noch einmal eine ausgelassene Runde durch das kleine Wäldchen. Die Wölfin war froh, dass sich hier gerade kein Jäger herumtrieb. Nur ungern dachte sie an die getötete Wölfin Bärbel - vor allem, da der Ort des Geschehens nicht sehr weit weg war.
Da sie jegliches Zeitgefühl verloren hatte, begab sie sich zum anderen Ende des Waldes und hielt nach der Sonne Ausschau. Es musste später Nachmittag sein - höchste Zeit, zurückzukehren.
Sie ließ es sich nicht nehmen, noch einmal durch den Wald zu laufen, wieder zurück zu dem Mädchen am Waldrand. Dort angekommen, blieb sie zögernd stehen. Vorsichtig sah sie sich um. Als das Mädchen ihr ein Zeichen gab, richtete sich die Wölfin langsam auf. Ihre Gliedmaßen und ihr Körper streckten und verformten sich. Als die Rückverwandlung abgeschlossen war, lief Lupina - die nun wieder Anna war, zu ihrer Freundin Sandra. "Entschuldige, ich hab völlig die Zeit vergessen." "Das bin ich doch schon gewohnt", erwiderte Sandra leicht lächelnd, "ich weiß doch, wie sehr du 'Lupina' magst. Aber nun wird's Zeit für den Rückweg." Anna nickte. Gemeinsam marschierten sie den Weg entlang bis zu der Weide am Forsterdamm, wo ihre Pferde standen und ritten zu Anna nach Hause.