Beauty and the Beast FORUM
Alles rund um die TV-Serie "Die Schöne und das Biest"
*** Keep the dream alive!!! ***
 
Sie sind nicht eingeloggt.
LoginLogin Kostenlos anmeldenKostenlos anmelden
BeiträgeBeiträge SucheSuche HilfeHilfe
ChatChat VotesUmfragen FilesDateien CalendarKalender
eine neue familie

Anfang   zurück   weiter   Ende
Seite: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9
Autor Beitrag
sheena
Tunnelexperte


Beiträge: 925
Ort: berlin


New PostErstellt: 14.11.09, 22:30  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

9. Kapitel – Neue Freunde 

Stella lag vier Tage im Fieber. Was um sie herum geschah, nahm sie teilweise nur wie in einen Kokon gehüllt wahr. Das Atmen war Schwerstarbeit. Heftige Hustenanfälle ließen sie mehrmals das Medikament erbrechen, so dass es nur schwer zu Wirkung kommen konnte. Der Magen rebellierte auf Grund der spärlichen Ernährung im letzten viertel Jahr sogar gegen die Hühnersuppe, die man versucht hatte, ihr einzuflößen. Doch die Menschen um sie herum versuchten alles, was ihnen möglich war, um zu helfen und zu lindern.  

Vater war bei seinem nächsten Besuch schon nicht mehr so brummig. Mary hatte er ja schon beim letzten Wort seiner Moralpredigt verziehen gehabt. Ihm war eigentlich von Anfang an klar, dass sie aus Nächstenliebe und Pflichtbewusstsein gehandelt und richtig entschieden hatte. Aus der Bronchitis war nun doch eine handfeste Lungenentzündung geworden, die er nur schwer in den Griff bekam. Angesichts der kleinen, so zerbrechlich wirkenden Person regte sich wohl auch in ihm ein wenig der Beschützerinstinkt. Er spürte, dass die junge Frau Angst hatte, zu ersticken und versuchte, sie so gut, wie es ihm möglich war, zu trösten und zu beruhigen. Mary und Rebecca wechselten sich in der Pflege ab. Eine von den beiden Frauen war immer bei ihr. Die Kinder brachten Essen. Bei der Gelegenheit warfen sie natürlich auch neugierig einen Blick auf die Fremde. Leise tuschelnd standen sie an Stellas Krankenbett und mutmaßten, wer sie wohl war und woher sie gekommen sein mochte. Die Mädchen bewunderten das wunderschöne, lange, blonde Haar. Die Jüngeren malten Bilder und stellten sie ihr auf den Nachttisch. Jacob stand manchmal einfach nur so an ihrem Bett und betrachtete sie, bis Mary ihn dann flüsternd zu den anderen schickte, damit er seine Aufgaben erledigte. Aber er fand oft einen Vorwand, um sich wieder in Mary’s Kammer aufhalten zu können. Als er am Abend des dritten Tages kam, um sich gemeinsam mit den anderen Kleinen seine Gute-Nacht-Geschichte abzuholen, hatte er ihr sein Lieblingsspielzeug aufs Kissen gelegt – eine kleine Puppe mit freundlichem Gesicht, niedlicher Stupsnase und blondem Haar. Er meinte, die beiden würden sich so ähnlich sehen und darum wolle er Stella seinen Liebling borgen, bis sie wieder gesund sei. 

Vincent und die anderen staunten, dass sein Sohn dieses Spielzeug hergab, denn seit der Kleine es vor zweieinhalb Jahren in einer Truhe in Vincents Kammer gefunden hatte, schien der Junge mit diesem Püppchen verwachsen zu sein. Ohne, dass er es wusste, trug Jacob ständig ein Andenken an seine Mami Catherine umher. Er hatte jedes Mal Zeter und Mordio gebrüllt, wenn man es ihm abnehmen wollte. Also musste man sich in der Tunnelgemeinde damit abfinden, dass hier unten ein Junge mit einer Puppe unter dem Arm herumlief, aber niemand kam auf die Idee, den Kleinen dafür hänseln, auch die Kinder nicht. Alle wussten, dass seine Mutter Minuten nach seiner Geburt durch eine Überdosis Morphium getötet wurde. Diana, eine Freundin und engagierte Polizistin, hatte den Mord an Catherine aufklären können und dann aus dem Nachlass die erinnerungsträchtigsten Gegenstände zusammengetragen und an Vincent übergeben. So auch das Püppchen. Darüber hinaus hatte sie auch unter Einsatz ihres Lebens den Entführer des kleinen Jacob gefunden. Somit konnte sie Vincent den Weg ebnen, seinen Sohn aus der Gewalt dieses gemeingefährlichen Verbrechers zu befreien und nach Hause in die Tunnelgemeinde zu bringen.  

Seither waren fünf Jahre vergangen. Aus dem Baby, das einen mit einem Blick angesehen hatte, als wüsste es über alles in der Welt bereits Bescheid, war ein intelligenter, aufgeweckter Junge geworden. Er hatte ein freundliches, bescheidenes Wesen und strahlte, obwohl er noch ein Kind war, bereits eine gewisse Charakterstärke und Sicherheit aus, die jeden beeindruckte. Allerdings war er für sein Alter viel zu ernst. Die Streiche und Albernheiten der anderen Kinder beobachtete er meist nur skeptisch und war äußerst selten aktiv dabei. Seine Bewegungen waren flink und geschmeidig wie die seines Vaters. Ebenso hatte er das ausgezeichnete Gehör und die Fähigkeit, im Dunkeln besser sehen zu können als jeder andere Mensch, von Vincent geerbt. Lernen fiel ihm nicht schwer und er tat es gern. Der Junge hatte, trotz seiner Ernsthaftigkeit, eine Art an sich, die jeden noch so mürrischen Griesgram zugänglicher werden ließ, was Vater auf die leicht empathischen Fähigkeiten des Jungen zurückführte. Jacob tat einfach gut und war so etwas wie das Maskottchen in der Tunnelgemeinde. Jeder mochte ihn. 

Stella stieg ein Geruch in die Nase, der sie an Weihnachten erinnerte und sie langsam zu sich kommen ließ. Was war das? Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach der Erinnerung an diesen Duft. Kerzen! Es war der Geruch von Kerzenwachs! Schon wieder ein Traum? Wie kamen Kerzen in ihr Versteck? Ihr fiel ein, dass sie ja zuletzt gar nicht in der kleinen Versorgungskammer gewesen war, sondern sich nass, durchgefroren und halb verhungert an dem unterirdischen Wasserfall auf eine Decke hatte fallen lassen. Aber wieso war ihr dann so wohlig warm? Und woher kam dieser Wachsgeruch! Sie versuchte, die Lider zu heben, aber die Augen zu öffnen war im Moment noch eine unlösbare Aufgabe. Sie hörte das wohlbekannte Klopfen in den Rohren und das Knacken und Knistern von brennendem Holz, spürte die Wärme des Feuers. Sie musste dicht an einem Kamin liegen. Das zu erkennen war nicht schwer. Das Gehirn arbeitete also schon wieder, doch der Körper tat noch nicht wirklich das, was er sollte. Aber sie konnte spüren, dass das, worauf sie lag, nicht ihr harter Apfelsinenkistendiwan war. Sie fühlte eine Matratze im Rücken und ihr Kopf lag auf einem Kissen. Warme, weiche Decken gaben ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Weit, weit entfernt hörte sie Kinder singen. Ein Weihnachtslied! Oh, da war ein falscher Ton dabei! Kurze Pause. Dann begann das Lied von vorn. Stella war völlig konfus. Woher kamen auf einmal Kinderstimmen, die Weihnachtslieder sangen? Das musste ein Traum sein! Nun zwang sie sich, die Augen zu öffnen. Ihr erster Blick fiel auf eine alte Kommode, auf der Bilder auf Häkeldeckchen und ein fast blinder Spiegel standen. So sanft der Schein der überall im Raum aufgestellten Kerzen auch war, er blendete wie Halogenscheinwerfer und zwang dazu, die Augen schnell wieder zu schließen. Stella drehte sich auf die Seite und legte die Hände vor das Gesicht. Das konnte doch nicht sein! Was hatte sie da eben gesehen? Doch so nach und nach sickerte das Bild bis ins Gehirn und ließ ihr bewusst werden, dass es real war. Sie nahm die Hände vom Gesicht und blinzelte, um sich langsam an dieses Licht gewöhnen zu können. Die Kommode mit dem Bildern und dem Spiegel stand immer noch dort! Stella setzte sich auf und sah sich verwirrt um. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie damit den restlichen Nebel aus ihrem Hirn vertreiben. Gott, wo war sie nur? Vermutlich immer noch unter der Erde, das erkannte sie an den felsigen Wänden und beruhigte sie ein wenig. Ihre Hände strichen über die dicke, weiche Patchworkdecke und den Stoff des Nachtshemdes, das sie trug. Langsam lichtete sich der Schleier und die Erinnerung kehrte bruchstückweise zurück. Die Frau, die die Kinder Mary nannten, war bei ihr gewesen und hatte ihr aus den nassen Kleidern geholfen. Sie konnte sich auch an eine kleine Kinderhand erinnern, die zaghaft die ihre gestreichelt hatte. Ebenso an eine brummige Männerstimme, kühlende Umschläge auf ihrer Stirn und leise, beruhigende Worten. Sie wusste noch, wie der bittere Geschmack der Medizin durch den warmen Tee neutralisiert wurde, aber nicht, wie sie in dieses Zimmer gekommen war. 

Stella sah sich um. Es war gemütlich eingerichtet. Das Bett war etwas durchgelegen, aber bequem. Es wurde von einer Art Alkoven aufgenommen, der in den Fels geschlagen worden war. Mit einem Vorhang konnte man es vom übrigen Raum trennen und vor neugierigen Blicken schützen. Rechts neben dem Kopfende stand ein kleiner Nachttisch, auf ihm eine alte Lampe, an die eine kleine Puppe gelehnt saß. Auf der linken Seite hatte man ein Feuerbecken aufgestellt, in dem das Feuer still vor sich hin brannte und Behaglichkeit verströmte. Das Fußende des Bettes wurde durch eine Holztruhe abgeschlossen. Mitten im Raum stand ein großer, beinahe weißgescheuerter Tisch mit mehreren Stühlen. Vermutlich versammelten sich hier des Öfteren Leute. In einer weiteren kleinen Nische lud ein alter, abgewetzter, aber gemütlicher Sessel zu Ausruhen ein. Die restliche Möblierung bestand aus einem Sammelsurium kleinerer und größerer Kommoden. Alles war liebevoll mit Kerzenständern, Bildern, die überwiegend Kinder zeigten, und anderem kleineren Zierrat dekoriert. Auf einem Hocker in der Ecke stand ein Weidenkorb, in dem sich Wäschestücke häuften. Links neben dem Eingang verdeckte ein Paravent ein riesiges Monstrum von Kleiderständer sowie eine kleine Waschecke. Auf der anderen Seite ragte ein merkwürdig aussehendes Regal fast bis zur Decke empor, das mit Büchern vollgestopft war. Wie Stella erkennen konnte, waren es überwiegend Kinderbücher. Daneben war eine Spielzeugkiste deponiert. Wohnte hier ein Kind?  

Stella bemerkte am Eingang zu der Kammer, vor dem eine dicke Zeltplane als Sichtschutz hing, eine kleine Bewegung und zuckte zusammen. Sie zog die Decke mit beiden Händen bis zum Kinn, um sich im Notfall schnellstens darunter verkriechen zu können. Eine ziemlich alberne Aktion, denn wenn ihr jemand etwas hätte antun wollen, wäre das längst geschehen, überlegte sie. Sie ließ die Hände samt Decke wieder sinken und fragte mit belegter Stimme: „Ist da jemand?“. Sie war sich nicht ganz sicher, ob die vermeintliche Bewegung vielleicht nur Einbildung gewesen war. Gespannt beobachtete sie den Eingang. Die Falten der Plane gerieten sanft ins Schwingen, ein schmaler Spalt wurde sichtbar und dahinter die Hälfte eines kleinen Gesichtes. Noch einmal fragte sie: „Hallo? Ist da jemand?“ Der Spalt wurde breiter und ein Junge betrat den Raum. Er blieb am Eingang stehen und schaute ihr ruhig in die Augen. „Ich wollte dich nicht wecken. Nur schauen, ob es dir besser geht.“ Stella war über die ruhige bedächtige Sprechweise des Knaben überrascht. Die meisten Kinder würden in so einer Situation herumstottern oder albern kichern. „Du hast mich nicht geweckt. Komm ruhig näher!“ Sie beobachtete den Jungen, der mit gemäßigten Schritten an das Fußende des Bettes trat und dann auf die Holztruhe kletterte. Er kniete sich auf den Deckel und schaute Stella geradewegs ins Gesicht. Sie erkannte den Jungen wieder: „Du bist Jacob, nicht wahr?“ Er nickte nur und sah ihr direkt in die Augen. Stella bekam bei diesem intensiven Blickkontakt eine Gänsehaut. Der Junge schien ihr direkt in die Seele zu schauen. „Du hast mich doch da oben in meinem Versteck in der Felswand entdeckt, stimmts?“ Er nickte wieder. „Warum hast du mich nicht verraten?“ Der Kleine zuckte die Schultern und entgegnete ruhig: „Weil ich keine Angst vor dir hatte.“ Mit dieser Antwort konnte Stella nicht viel anfangen: „Wie meinst du das?“ Jacob überlegte einen Augenblick und antwortete dann: „Na, wenn ich vor jemandem Angst habe, soll ich Daddy Bescheid sagen. Aber ich hatte keine Angst.“ Stella forschte weiter: „Dein Daddy – ist das der Mann mit den grauen Haaren und dem Bart, der mich gesundgemacht hat?“ Jacob schüttelte den Kopf: „Nein, das ist Vater.“ „Aha“, überlegte sie verwirrt, „Vater ist also nicht dein Daddy?“ Sie erhielt ein Kopfschütteln als Antwort. „Wer ist dein Daddy?“ „Na, Daddy ist Daddy!“ bekam sie mit leicht genervten Unterton zu hören. „Und Daddy passt immer auf alle auf und verjagt böse Menschen!“ Für Jacob war damit dieses Thema erledigt. Er ließ sich von der Truhe gleiten, ging zum Nachttisch und griff nach der Puppe. Dann krabbelte er aufs Bett und hielt ihr das Spielzeug vor die Nase: „Gefällt sie dir?“  Stella nahm vorsichtig die Puppe in die Hand und betrachtete sie lächelnd: „Ja, sehr! Ein hübsches, kleines Ding!“ „Hat Mami gehört.“ erklärte er kurz. Stella fragte skeptisch: „Ist deine Mami auch nicht böse, wenn die Puppe hier bei mir ist?“ Jacob schüttelte den Kopf: „Ich glaube, nicht.“ Sie gab ihm das Spielzeug zurück: „Sollten wir sie nicht besser fragen, ob es in Ordnung ist, dass die Puppe hier ist? Es wäre mir gar nicht recht, wenn die Mami deswegen schimpft.“ Der Kleine drückte seinen Liebling an sich und meinte überzeugt: „Mami schimpft nicht. Mami ist ein Engel und Engel schimpfen nie!“ Mit ein wenig Stolz in der Stimme erklärte er: „Sie wohnt im Himmel, weißt du?“ Stella erschrak. „Das tut mir sehr leid.“ flüsterte sie. Jacob sah sie verständnislos an: „Wieso? Im Himmel ist es doch schön. Mami geht’s gut. Ist nur doof, dass Daddy manchmal so furchtbar traurig ist, weil sie da oben ist und nicht hier bei uns.“ Stellas Augen wurden feucht. Sie kannte diesen Mann gar nicht, hatte aber unendliches Mitleid. Sie streichelte mit einer Hand die kleine Puppe und mit der anderen die Wange des Jungen. Der wischte sich verstohlen mit dem Ärmel über die Nase. Plötzlich hob er den Kopf und lauschte. „Was ist?“ fragte Stella. „William ruft. Abendessen!“ kam die knappe Antwort. Stella konnte beim besten Willen nichts hören. Dazu war vermutlich auch dieses Geklopfe in den Rohren zu laut. Bevor sie Jacob noch irgendetwas fragen konnte, war der schon vom Bett gerutscht und aus der Kammer geflitzt. Stella hörte ein „Hoppla! Langsam!“ und im nächsten Augenblick betrat eine hübsche, junge Frau mit blondem Pferdeschwanz den Raum. „Hallo, ich bin Jamie!“ stellte sie sich vor. „Ich bring dir was zu Essen. Ich hoffe, du hast ein wenig Hunger und magst Gemüsesuppe.“ Sie stand mit einem kleinen Henkelkörbchen in der Hand am Fußende und wartete auf Antwort. Stella horchte in sich hinein und stellte fest, dass tatsächlich ihr Magen knurrte. Sie nickte: „Ja! Ich glaube, ich könnte wirklich was vertragen!“ Jamie lächelte: „Fein! Ich habe auch noch nichts gegessen. Ich dachte, du würdest vielleicht lieber in Gesellschaft essen. Da schmeckt’s doch gleich viel besser, oder?“ Mit flinken Händen deckte sie den Tisch und half dann Stella beim Aufstehen. Sie war noch sehr wackelig auf den Beinen und brauchte einen Moment, um den Schwindel zu überwinden. Jamie half ihr in den Morgenmantel und rückte ihr den Stuhl zurecht. „Hm, das riecht ja wirklich sehr gut.“ staunte Stella. „Wo habt ihr das denn her?“ Jamie überlegte, was und wieviel sie der Fremden erzählen durfte. Doch da sich diese Frau ja schon eine ziemlich lange Zeit in den Tunneln aufhielt und vermutlich auch weiterhin hier bei ihnen wohnen würde, sollte sie ruhig über ein paar Kleinigkeiten Bescheid wissen. Sie musste ja nicht allzu sehr ins Detail gehen. Während die beiden jungen Frauen die Suppe löffelten, erzählte Jamie von der Tunnelgemeinde, den Helfern oben, die sie hier unten mit Lebensmitteln versorgten und von William, dem dicken Koch, der voll und ganz darin aufging, die Leute satt zu machen. Stella war überrascht. Niemals hätte sie gedacht, dass es unter dieser riesigen Stadt noch eine „Stadt“ gäbe. Zwar um vieles kleiner, allerdings mit einer ganz anderen, wie sie fand, besseren Gesellschaftsordnung. Wenn man sich diese Leute in ihrer alten abgetragenen, geflickten oder auch selbst zusammengenähten Kleidung so ansah, kam man in Versuchung, sie zu bedauern. Aber sie waren mit Sicherheit reicher als die Millionäre in ihren protzigen Villen und ihren dicken Bankkonten, denn sie hatten viele wirkliche Freunde und eine Familie, auf die sie sich verlassen konnten. Etwas Wertvolleres gab es auf dieser Welt nicht.  

Stella schaffte in Jamies Gesellschaft fast eine ganze Schüssel der köstlichen Suppe. Sie lehnte sich zurück und strich sich über den fast nicht vorhandenen Bauch: „Ich glaube, ich platze gleich!“ Jamie musste kichern. „Mary und Vater werden sich freuen, dass du endlich essen konntest. Sie haben sich große Sorgen gemacht. Du warst wirklich sehr krank“ Sie räumte das Geschirr zusammen und half Stella dann, sich etwas frisch zu machen. Sie versorgte sie mit frischer Wäsche und schüttelte die Kissen auf. Stella versuchte inzwischen, mit ihrem langen Haar fertig zu werden, aber die Bürste in ihrer Hand wog ihrer Ansicht nach mindestens zwei Zentner. Ihre Arme wurden schwer und machten die Abendtoilette zum Kraftakt. Jamie nahm ihr wortlos die Bürste aus der Hand und ließ sie sanft durch die langen Haarsträhnen gleiten. „Darf ich dich was fragen?“ setzte sie vorsichtig an. „Aber ja!“ entgegnete Stella. Sie vermutete, dass Jamie wissen wollte, was sie in die Tunnel geführt hatte. Aber stattdessen kam die Frage: „Hast du eigentlich gemerkt, dass wir dich schon eine ganze Weile in deiner kleinen Abstellkammer beobachtet hatten?“ Stella drehte sich überrascht zu Jamie um und schüttelte den Kopf. „Ihr habt gewusst, dass ich dort untergekrochen bin?“ Jamie nickte nur. Stella schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich dachte immer, ich hätte mich gut versteckt. Ich hörte zwar Kinder, hab aber gemeint, sie würden dort nur spielen!“ Jamie lächelte etwas verlegen: „Haben sie ja auch. Und dabei entdeckten sie dich! Sie haben Mouse und mir von dir erzählt und wir beide sind dann ab und zu heimlich nachschauen gegangen, wie es dir geht und was du so machst. Ob du vielleicht gefährlich für uns werden könntest.“ „Mouse?“ fragte Stella neugierig. „Ja, Mouse ist mein Freund. Unser aller Freund. Ein lieber Kerl. Handwerklich sehr begabt. Er hat schon vieles hier unten gebaut, was uns das Leben erleichtert.“ Sie zeigte in Richtung Tür. „Dieses Bücherregal dort war eines seiner ersten ‚Machwerke’. Da war er noch ein Junge“ Sie lachte leise. „Es ist zweimal in sich zusammengefallen, bevor er herausbekommen hatte, wie er es anstellen muss, damit es auch stehen bleibt. Heute baut er Alarmanlagen und Sicherheitstüren, die uns vor Eindringlingen schützen!“ Stella hörte Stolz in Jamies Stimme. „Gehört ihr zusammen? Ich meine - liebst du ihn?“ war die nächste Frage. „NEIN!“ lautete die fast erschrockene Antwort, die ein klein wenig zu schnell kam. „Nein, er ist nur mein Freund!“ Eine leichte Röte überzog Jamies Wangen. Stella schmunzelte, bohrte aber nicht weiter nach.  

Auf dem Tunnelgang waren Schritte und Flüstern zu hören, die näher kamen. Die Zeltplane wurde zur Seite geschoben und Mary’s Gesicht erschien. „Oh, du bist ja aufgestanden! Dann geht es dir also besser, ja?“ fragte sie freundlich. Stella nickte: „Oh ja, danke. Es geht mir sehr viel besser.“ Jamie ergänzte lächelnd: „Sie hat einen Teller Suppe gegessen und für den ersten Tag ziemlich viele Fragen gestellt!“ „Das klingt ja schon mal sehr gut! Das wird Vater freuen, zu hören.“ Mary ging auf Stella zu, legte ihr die Hand auf die Stirn und nickte zufrieden. „Aber trotzdem würde ich vorschlagen, du legst dich jetzt wieder hin. Du bist noch sehr schwach.“ Sie half ihr wieder ins Bett und deckte sie zu wie ein Kind. Stella ließ sich das gern gefallen. Diese halbe Stunde Abendessen hatten sie so sehr ermüdet, als hätte sie den ganzen Tag Steine geschleppt. Und so umsorgt wurde sie schon lange nicht mehr. Mary stellte ihr eine frische Kanne Tee auf den Nachttisch und fragte dabei: „Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich die Kinder hereinlasse? Sie versammeln sich jeden Abend hier, damit ich ihnen ihre Gute-Nacht-Geschichte vorlese.“ „Es macht mir ganz und gar nichts aus! Ich liebe Gute-Nacht-Geschichten!“ entgegnete Stella mit leuchtenden Augen. Sie fühlte sich schon wieder in die Kindheit versetzt. „Mary, wer wohnt eigentlich sonst hier in diesem Raum?“ wollte sie wissen. „Ich nehme doch sicher irgendjemandem den Platz weg, oder?“ Während die Kinder leise das Zimmer betraten und sich auf Sessel, Stühlen und Bettkanten setzten, erklärte ihr die Frau: „Das hier ist meine Kammer. Aber im Moment wohne ich bei Elisabeth. Die wirst du auch noch kennenlernen und ihr werdet euch sicher sehr gut verstehen, denn sie malt auch!“ Stella stutzte. Woher wusste die Frau, dass sie zeichnete? Doch bevor sie fragen konnte, erklärte Jamie weiter: „Eigentlich hätten wir dich ja im Krankenzimmer untergebracht, wie sich das gehört. Aber vorige Woche ist im Kinderzimmer ein Rohr geplatzt und alles war überschwemmt. Also mussten wir die Kinder auf das Krankenzimmer und die Gästekammern verteilen.“ Mary machte es sich in dem alten Sessel bequem und nahm eines der Kinderbücher zur Hand. „Im Normalfall lese ich die Gute-Nacht-Geschichte ja im Kinderzimmer vor, wenn die Kleinen alle schon in ihren Betten liegen. Aber da sie alle verteilt sind, machen wir das nun hier.“ Sie zog ächzend die kleine Nicky zu sich auf den Schoß und legte ihr eine Decke um. „Hey, du bist schwer geworden!“ neckte sie und kitzelte die Kleine am Bauch. Das etwa dreijährige Mädchen quietschte lachend auf. Dann kuschelte sie sich an, steckte den Daumen in den Mund und wartete darauf, dass Mary endlich mit dem Vorlesen begann. Jacob griff sich sein Püppchen und drängelte sich zu Stella ans Kopfende. Er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter, als wenn er sie schon jahrelang kennen würde. Diese vertrauliche Geste rührte sie und sie konnte nicht umhin, ihm lächelnd die Wange zu streicheln. Als endlich Ruhe eingekehrt war, begann Mary, aus dem dicken Geschichtenbuch vorzulesen.  

Weitere drei Tage später ging es Stella schon wieder so gut, dass sie fürchterliche Langeweile quälte. Sie hatte sich durch das gute Essen und die liebevolle Pflege schnell erholt und wollte nun endlich wieder aufstehen und etwas tun können. Doch Mary und Vater waren strenge „Eltern“, wie sie die beiden insgeheim nannte, und gestatteten ihr nur ein bis zwei Stunden am Tag, das Bett zu verlassen. Zum Glück kamen öfter einige der Kinder zu ihr und sie spielten zusammen, lasen Geschichten oder malten. Stella hatte inzwischen von fast jedem Kind ein Porträt gezeichnet. Die Knirpse waren damit stolz ins Kinderzimmer getrabt und hatten die Bilder an jeder nur auffindbaren freien Stelle ihres kleinen Reiches aufgehängt. Die Kleinen versuchten sich nun auch in dieser Kunst. Stella hatte ihnen ein wenig über Perspektiven, Licht-Schatten-Wirkung und Zeichentechniken beigebracht. Einige schienen tatsächlich talentiert zu sein. So langsam wurden allerdings die Zeichenblätter knapp und man griff auf die Rückseiten alter, unbenutzter Tapetenrollen zurück, die ein Helfer gestiftet hatte. Überall lagen nun die kleinen  Meisterstücke ihrer Schüler herum, so dass man beschloss, so eine Art Galerie im Schulzimmer einzurichten.  

Während Stella mit den anderen Kindern zeichnete, saß Jacob immer ganz dicht an ihrer Seite und schaute wie gebannt zu. Erzählte sie von ihrer Kindheit in Schweden, von den Großeltern, deren Hof und dem Meer, klebten seine leuchtenden Augen förmlich an ihren Lippen. Er suchte ständig ihre Nähe. Beim abendlichen Vorleseritual verteidigte er vehement seinen Platz an ihrer Schulter. Auch bei seinen Leseübungen durfte nur noch Stella helfen. Es war ihr Mary gegenüber ein wenig peinlich, aber die gutmütige Frau nahm das mit einem nachsichtigen Lächeln hin. Sie hatte noch viele andere Verpflichtungen, so dass es ihr gar nicht so unrecht war, dass Stella ein wenig die Lehrerin spielte. 

Als Vater bei seinem letzten Krankenbesuch feststellen konnte, dass seine Patientin kein Fieber mehr hatte, durfte sie endlich aus dem Bett. Rebecca stattete sie mit geeigneter Kleidung aus, die sie vor der Kälte und der in den Tunneln ständig herrschenden, leichten Zugluft schützen sollte. Während sie Stella beim Ankleiden half, warteten Jacob und Samantha, eines der älteren Mädchen, vor Mary’s Kammer, um Stella zu einer kleinen Tunnelführung abzuholen. Die Beiden zeigten ihr das Kinderzimmer, das gerade wieder eingerichtet wurde. Einige Betten standen schon wieder und zwei Jungen waren dabei, das Spielzeug in Regale einzuräumen. Jacobs Bett stand dicht am Eingang, daneben eine Kiste mit seinen Kleidern. Man fiel benahe beim Betreten des Raumes darüber. Eigentlich sollte er ja auch seine Sachen in den kleinen Schrank räumen, der neben dem Kopfende aufgestellt war, aber er verspürte nicht die geringste Lust dazu. Er wollte eigentlich sowieso nicht wieder ins Kinderzimmer zurückziehen. Während der Überschwemmung hatte er bei seinem Vater geschlafen, das war viel besser gewesen. Dort war gab es so viele interessante Dinge und wenn der Papa auf einem seiner Kontrollgänge durch die Katakomben war, konnte man schön in seinen Sachen stöbern. Morgens durfte er auf sein riesiges Bett krabbeln und hatte ihn dann fast eine Stunde lang ganz für sich allein. Sie hatten geredet und geredet. Er konnte seinen Kummer bei Daddy loswerden und der hatte ihm von seiner Mami erzählt. Jacob verstand nicht, warum er nun wieder zurück sollte. Doch Vincent war der Ansicht, dass es besser für den Fünfjährigen wäre, unter Gleichaltrigen zu sein. Es hatte zwischen ihm und seinem Sohn einen kurzen, aber heftigen Disput deswegen gegeben. Jacob sollte keine Sonderstellung einnehmen, nur weil sein Großvater und sein Vater an der Spitze der Gemeinde standen. Als der Junge merkte, dass sein Daddy hart bleiben würde, hatte er trotzig mit dem Fuß aufgestampft, war anschließend zum Spiegelteich gelaufen und hatte wütend Steine ins Wasser geworfen. Vincent hatte ihm eine Weile Zeit gegeben, sich abzureagieren und war ihm dann gefolgt. Er hatte das kleine, schniefende Kerlchen, das da am Ufer hockte, in den Arm genommen und sanft auf es eingeredet.  Er verstand ja seinen Wunsch, aber jetzt durfte auf keinen Fall nachgegeben werden. Als Jacob sich bockig Vincent’s Arm von seiner Schulter schüttelte, änderte dieser seine Strategie. Mit Strenge hatte er nichts erreicht, also packte er den Knaben bei der Ehre, machte ihm klar, dass seine Zimmerkameraden ihn doch so vermissen würden und traurig wären, wenn er nicht mehr bei ihnen wohnen wolle. Das konnte Jacob nun auch wieder nicht zulassen. Also hatte er, aber nur, um dem Vater und seinen Freunden einen Gefallen zu tun, maulend seine Sachen gepackt und ins Kinderzimmer getragen. Aber das war’s dann auch schon mit seiner Einsicht. Um seinen Protest auszudrücken, ließ er die Kiste einfach mitten im Weg auf den Boden plumsen, drehte sich auf dem Absatz um und ging ohne Umwege zu Stella, um sich von ihr mit Geschichten ablenken und trösten zu lassen. Und so, wie er die Kiste hatte fallen lassen, blockierte sie noch immer den Eingang zum Kinderzimmer und würde es wohl auch noch weiterhin tun, wenn hier nicht irgendwann ein Erwachsener ein Machtwort sprach. 

Die Führung ging weiter durch sauber gefegte und beleuchtete Tunnelgänge, wie Stella sie schon am Wasserfall kennengelernt hatte. Jacob wollte natürlich unbedingt zum Spiegelteich und zur Flüstergalerie. Samantha zeigte ihr das Krankenzimmer und ihr eigenes kleines Reich. Fast jeder Erwachsene hier unten hatte seinen eigenen Raum, den er sich so schön und individuell wie möglich einrichten konnte. Danach ging es in die Küche. Hier versuchte ein unglaublich dicker Koch hektisch, vier Feuerstellen unter Kontrolle zu halten, um nichts anbrennen zu lassen. Der schwitzende Mann, den alle William nannten, nickte den Dreien nur kurz lächelnd zu und kümmerte sich dann wieder um die Töpfe, die ebenso gewaltige Ausmaße hatten wie der Küchenchef. 

Die beiden Kinder führten Stella dann weiter zur Rohrkammer, der Kommunikationszentrale. Dort herrschte Pascal, der, einer Spinne gleich, sich blitzschnell in dem Gespinnst von Leitungen hin- und herbewegte und wie ein Schlagzeuger mit zwei eisernen Stangen Nachrichten an die Rohre trommelte. Der kleine Mann mit der Glatze und den etwas abstehenden Ohren war ihr sofort sympathisch, wenn er auch irgendwie geistesabwesend zu sein schien. Er war sehr bemüht, Stella  das System zu erklären, unterbrach sich aber oft mitten im Satz, weil ihm dann in diesem Moment die Klopfzeichen in den Leitungen wichtiger waren als sein Gast. Man spürte, dass er für seine Arbeit lebte und sie ihm sehr viel bedeutete. Dieses Kommunikationssystem war ja auch enorm wichtig für die unterirdische Gemeinde, da mit dessen Hilfe schon viele Gefahren rechtzeitig erkannt und abgewehrt und sogar Leben gerettet werden konnten.  

Stella beeindruckte die Geschwindigkeit, mit der Pascal zwischen den Leitungen hin und her huschte, an den Rohren horchte und im Morsealphabet Antworten gab oder weiterleitete. Sie hätte ihn gern noch eine Weile bei der Arbeit beobachtet, wollte aber den fleißigen Mann nicht länger bei seiner wichtigen Aufgabe stören und verabschiedete sich nach einer Viertelstunde. Die Kinder zogen sowieso schon ständig an ihren Ärmeln und wollten weiter. Vater hatte die beiden gebeten, Stella nach der Führung in seine Kammer zu bringen.  

Die drei blieben an einer kurzen, schmalen Treppe stehen, die in den fast kreisrunden Hauptraum hinabführte. Hier also wohnte der Mann, der sie wieder gesund gemacht hatte. Doch er schien nicht da zu sein. Das gab Stella die Gelegenheit, sich einen kurzen Moment umzusehen. Sie stand auf der obersten Stufe und ließ die Atmosphäre des Raumes auf sich wirken, der den Eindruck vermittelte, in der Unterkunft eines Wissenschaftlers aus dem Mittelalter angekommen zu sein. Es hätte sie nicht gewundert, wenn sie hier Vater, in ein Gespräch mit Leonardo da Vinci vertieft, angetroffen hätte.  

Der Durchgang zu der Kammer war vollgestellt mit Gegenständen, die eigentlich niemand brauchte. Aber die Dinge, mit denen Vaters Raum dekoriert war, führte einen auf eine Art Zeit- und Weltreise zu gleich. Zwischen all den Büchern standen aus verschiedenen Kulturen und vergangenen Epochen kleinere Kostbarkeiten, aber auch moderner Kitsch.  

Hatte man den schmalen Korridor passiert, wurde man von der rechten Seite her von der marmornen Büste einer barocken Schönheit begrüßt. Links entlang führte ein breiter, von einem Geländer aus Bücherstapeln begrenzter Mauersims in eine Schlafnische. Eine griechische Statue, die ein Gefäß auf dem Kopf trug, schien Vaters Bett zu bewachen. Hinter dieser Schlafnische befand sich ein weiterer Zugang zu der Kammer. 

Am Fuß der kleinen Treppe stand eine riesige ägyptische Bodenvase. In der linken Hälfte des Raumes bildete ein großer, achteckiger Tisch, der über und über mit Büchern und Plänen bedeckt war, den Mittelpunkt. Er war umringt von fünf verschiedenen Armstühlen.  

Auf einer freien Ecke des wuchtigen Tisches stand ein wunderschönes, altes Schachspiel mit handgeschnitzten Figuren. Eine davon war besonders auffallend. Sie stellte einen vermenschlichten Löwenkopf dar. Gleich daneben war ein Bauer positioniert, der wie Jamie aussah. Beide standen zum Schutz des weißen Königs, in dem man Vater wiedererkennen konnte, in der vorderen Reihe. Miniaturen von Pascal und einem anderen, sehr kräftig gebauten, Mann nahmen die Positionen der Läufer ein. Die Stellung der Figuren ließ vermuten, dass das letzte Spiel gerade begonnen worden war und irgendwann später weitergespielt werden sollte.  

Das andere Ende des Tisches war mit einem Teeservice gedeckt. Auf einem Stövchen dampfte leise eine Teekanne vor sich hin. Daneben standen auf einem kleinen Tablett zierliche Tassen bereit. Genau wie bei den anderen Gegenständen in diesem Raum passten auch sie nicht zueinander. Jede war von anderer Farbe und Form.  

An der Stirnseite des Tisches prangte, einem Thron gleich, ein großer Sessel. Er musste einst ein Prunkstück gewesen sein. Doch nach den vielen Jahrzehnten hatte der weiche, rote Samtstoff sehr an Struktur und Farbe verloren, so dass er an Sitz, Rücken- und den Armlehnen kahle, beigefarbene Stellen aufwies. Die goldenen Tressen waren nur noch verblasste, gelbliche Streifen. 

Die rechte Hälfte des Zimmers war wohl so etwas wie ein Büro. Dort stand ein monströser Schreibtisch, auf dem eine gewisse Ordnung herrschte. Die Wand dahinter wurde fast vollständig von einem gigantischen, reich mit Holzschnitzereien verzierten, Bücherschrank verdeckt. An den Wänden oder auch mitten im Raum standen, wie auch in Mary’s Kammer, altmodische Sideboards , selbstgebaute Regale, antike Vertikos und Buffettschränke so wie wunderschön verzierte Truhen. Sie versuchten, mehr oder weniger erfolglos, Unmengen an Büchern zu fassen – darunter teilweise sehr wertvolle literarische Antiquitäten, gemischt mit den billigsten Schmökern, Groschenromane, die man einmal las und dann wegwarf. Zwischen all dem Durcheinander standen dicke, flackernde Stumpen auf ausgedienten Tellern, lange, schlanke Kerzen in angelaufenen Kandelabern und alte Tiffanylampen, die dieses malerische Durcheinander in ein warmes Licht tauchten und Gemütlichkeit aufkommen ließen.  

In ungefähr zweieinhalb Metern Höhe umrundete eine Art Galerie den enorm großen, gewölbeähnlichen Raum. Zwei Treppen führten hinauf – eine eiserne Wendeltreppe, die sich an der Wand gegenüber der kleinen, schmalen Zugangstreppe befand, und eine kleinere Holzstiege etwas weiter links im Raum. Dort oben befanden sich zwei weitere Tunnelzugänge. Die Brüstung des balkonähnlichen Gebildes setzte sich aus mehreren verschiedenen Elementen zusammen. Es mussten früher einmal Balkongitter, Zaunfelder und Treppengeländer gewesen sein. Die Empore, die aus Abfallholz zusammengezimmert worden war, wurde von unten durch mehrere, dicke Balken und Säulen sowie einen alten Kleiderschrank gestützt. Auch hier lagen in hohen Stapeln Bücher und Zeitschriften, so dass sich der Boden bereits gefährlich durchbog. Der Geruch und der Anblick dieser Büchermassen erinnerte Stella an eine Bibliothek. Sie wünschte sich, hier mal ein wenig herumstöbern zu dürfen. Wenn nur diese Unordnung nicht wäre!  

„Wer ist denn da?“ hörte Stella die ihr bereits bekannte Stimme des alten Arztes, aber sehen konnte sie ihn nicht. Jacob hatte seinen Großvater allerdings bereits entdeckt und schlängelte sich an einem großen Standglobus vorbei durch die Bücherberge. „Opa, wir bringen dir Stella.“ Vater tauchte hinter einem alten Sideboard auf und schaute wie immer über den Brillenrand hinweg in Richtung Eingang, wo Stella noch immer mit offenem Mund stand und über die Bücherflut staunte. „Das ist lieb von euch, mein Junge. Nun geh mit Samantha mit. Soweit ich mich erinnern kann, solltest du doch deinen Schrank wieder einräumen. Sie wird dir helfen.“ Augenblicklich verwandelte sich Jacobs freudiges Gesicht in einen Flunsch. Er ließ die Schultern sinken und trottete mit hängendem Kopf seiner großen Freundin hinterher. Vater sah ihm mitleidig lächelnd nach und seufzte leise. Doch sein Adoptivsohn hatte entschieden, also konnte er nicht dagegenreden. Außerdem hatte Vincent Recht.  

Dann wandte er sich an Stella: „Komm her zu mir und setz dich! Ich möchte mich gern mit dir unterhalten und dich besser kennenlernen.“ lud er sie mit einer freundlichen Geste ein. Stella erfasste ein unangenehmes Gefühl. Sollte das hier ein Verhör werden? Er kannte sie doch schon von den Krankenbesuchen, wo er ihr bereits Löcher in den Bauch gefragt hatte. Was hatte der Mann denn vor? Sie wegjagen? Leichte Panik erfasste sie. Er war doch bis jetzt immer so freundlich, wenn auch reserviert, gewesen! Aber er hatte „kennenlernen“ gesagt. Das wollte sie als gutes Zeichen werten. „Mary hat uns Tee gemacht. Möchtest du?“ Als wenn sie auf ihr Stickwort gewartet hätte, betrat Mary den Raum. Sie brachte Gebäck. „Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn Mary sich zu uns setzt?“ Stella hatte absolut nichts dagegen, denn sie hatte schon längst zu der gütigen Frau Vertrauen gefasst und fühlte sich in ihrer Gegenwart nicht ganz so unsicher. Sie setzte sich in einen der kleinen Armstühle und nahm dankend die gefüllte Teetasse entgegen, die zu ihrem Erstaunen aus feinstem chinesischem Porzellan gemacht war. Diese Welt hier unten überraschte sie in einem Fort. Vater hatte ihren verwunderten Blick bemerkt und meinte lächelnd: „Tja, so manch einer weiß gar nicht, was er da wegwirft!“ Stella nickte nachdenklich und bemerkte leise: „Ja, und ich habe auch einmal dazugehört.“ Vater räusperte sich und setzte sich der jungen Frau direkt gegenüber, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können. Er hatte vor, herauszubekommen, wie ehrlich und vertrauenswürdig sie war. Das konnte er am besten aus der Mimik seines Gegenübers herauslesen. Er machte es sich in seinem großen Lehnstuhl bequem, nahm ebenfalls seine Teetasse und schaute Stella mit forschendem Blick in die Augen: „Wie meinst du das?“. Die junge Frau seufzte und begann, ihre Geschichte zu erzählen.



[editiert: 14.11.09, 22:35 von sheena]
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden ICQ-Nachricht an dieses Mitglied senden
sheena
Tunnelexperte


Beiträge: 925
Ort: berlin


New PostErstellt: 17.11.09, 10:20  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

10. Kapitel – Vater und Sohn 

Anfangs hatte Stella keine Probleme, Vater und Mary von ihrem früheren Leben zu berichten. Als sie David damals auf einer Studienreise in die USA kennenlernte, war ihre Welt noch in Ordnung. Sie war in der Hotellobby über einen Koffer gestolpert und ihm genau in die Arme gefallen. Bei der Erinnerung an das umwerfende Lächeln des großen, gutaussehenden Mannes mit den breiten Schultern, an die charmante Einladung zum Abendessen und an die folgenden Tage in seiner Begleitung, die so aufregend und unvergesslich für sie waren, konnte Stella sogar lächeln. Sie erzählte von der traumhaften Verlobungszeit und der romantischen Hochzeit mit nahezu 200 Gästen, von dem Glück, dass sie beide empfanden, als sich der Nachwuchs ankündigte. David hatte seine kluge, wunderschöne, blonde Schwedin auf Händen getragen und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Niemand war so stolz auf den Sohn wie er. Zum Dank für die anstrengende Schwangerschaft und die komplizierte Geburt des fast acht Pfund schweren Stammhalters überschüttete der junge Vater sie mit Geschenken. Er baute für die kleine Familie ein wunderschönes Haus und sorgte für allen erdenklichen Komfort und Luxus. Aber all das finanzierte er mit Geldern aus schmutzigen Geschäften wie Drogen- und Waffenhandel. Als Stella zu diesem Kapitel in ihrem Leben kam, wurde ihre Stimme immer leiser und sie brachte die Worte nur schwer über die Lippen. Von den Misshandlungen durch David konnte sie nur mit Unterbrechungen erzählen, weil sie immer wieder um Fassung ringen musste. Als sie allerdings von Jared berichtete, bahnten sich die Tränen mit aller Macht ihren Weg. Die schmerzliche Erinnerung an den Jungen mit der gegen sie erhobenen Hand, den sie an den gewalttätigen Vater verloren hatte, überwältigten sie.

Mary war während Stellas Bericht aufgestanden und wanderte, ihr Taschentuch knetend, im Zimmer umher. Vater saß mit gesenktem Kopf in seinem Lehnstuhl und wischte sich mit einer Hand verstohlen über die Augen. Dass die junge Frau mit ihrer Behauptung, von ihrem Mann schlecht behandelt worden zu sein, stark untertrieben hatte, wusste er von den Untersuchungen. Er hatte die Narben mit eigenen Augen gesehen. Stella hatte eine kurze Pause eingelegt, um die Tränen zu trocknen und sich die Nase zu putzen. Sie atmete tief durch und trank ihren Tee aus. So nach und nach beruhigte sich die aufgewühlte Stimmung im Raum wieder. Etwas gefasster erzählte sie dann den Rest ihrer Geschichte, von der Flucht aus dem Krankenhaus bis zu dem Moment, wo sie am Wasserfall durch die absolute Erschöpfung und Unterkühlung eingeschlafen war. Den Rest kannten Vater und Mary selbst. Als Stella mit ihrer Geschichte fertig war, sah sie gespannt von einem zum anderen und wartete auf deren Reaktion. Mary schien noch völlig ergriffen zu sein und Vater hatte grübelnd die Stirn in Falten gelegt. Keiner sagte ein Wort. „Vater“ unterbrach die junge Frau die Stille, „Rebecca und Jamie haben mir erzählt, dass es sehr schwer ist, in eure Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Ich erwarte das auch gar nicht. Dazu kennt ihr alle mich ja auch noch nicht gut genug. Sowie ich wieder bei Kräften bin, werde ich verschwinden und euch nicht mehr stören, das verspreche ich dir! Aber ich bitte dich: lass mich wenigstens über den Winter weiterhin in meiner kleinen Abstellkammer wohnen.“ Sie blickte flehend in Vaters prüfende Augen und wartete, innerlich betend, auf seine Antwort. Vaters Blick wanderte von einer Frau zur anderen und wieder zurück. Die Augen seiner ältesten Freundin sahen ihn in der gleichen Weise an wie die der jungen Frau. Eigentlich hatte er seine Entscheidung schon getroffen, aber er entgegnete mit bedauerndem Ton: „Weißt du, Stella, unser Gesetz fordert in solchen Angelegenheiten die Einberufung des Rates. Nach dem Mittagessen sind hoffentlich alle Ratsmitglieder in der Nähe. Ich werde dir noch vor dem Abendessen die Entscheidung mitteilen, einverstanden?“ Er tätschelte beruhigend ihre Hand und zwinkerte ihr mit einem Lächeln zu. Stella hörte Mary laut aufatmen. Das konnte eigentlich nur Gutes bedeuten. Auch der Blick der lieben Frau war sehr zuversichtlich.

Plötzlich hörte man in dem Tunnelzugang auf der Galerie Unruhe aufkommen. Zwei von den älteren Jungen, Eric und Kipper, kamen atemlos in den Raum gestürzt und riefen aufgeregt: „Vater, du musst kommen! Mouse hat die neue Alarmanlage ausprobiert und einen schlimmen elektrischen Schlag bekommen.“ Der alte Mann verdreht die Augen und seufzte laut: „Nicht schon wieder! Mary, bitte  begleite mich, ja? Hach, dieser Bengel bringt mich noch ins Grab mit seinen Verrücktheiten! Oder er steigt noch vor mir in die Grube!“ Kopfschüttelnd griff er nach seinem Gehstock und humpelte, so schnell er konnte, in Richtung Ausgang. Mary griff hastig nach dem alten Arztkoffer und fragte im Hinausgehen: „Findest du allein in meine Kammer zurück?“ Stella fragte statt zu antworten: „Kann ich euch irgendwie helfen?“ Mary überlegte kurz und entgegnete: „Kümmere dich ein wenig um die Kinder, ja?!“ Stella nickte nur und war im nächsten Augenblick allein. Während sie die Tassen zusammenräumte und auf das kleine Tablett stellte, fiel ihr Blick auf das Schachspiel. Die Figuren faszinierten sie. Es waren wunderschöne Schnitzereien. Sie nahm die Figur des Königs in die Hand und betrachtete sie genauer.

Derjenige, der diese Miniaturen angefertigt hatte, musste ein wahrer Künstler sein. Sogar Vaters Blick über den Brillenrand hatte er genau getroffen. Die Haarsträhnen in Jamies langem Zopf waren genauestens herausgearbeitet und die Figur des Pascal schien jeden Moment mit den Eisenstangen lostrommeln zu wollen. Ein großes Rätsel war ihr allerdings der Springer mit dem löwenähnlichen Gesicht. Wen oder was hatte der Holzschnitzer mit dieser Figur darstellen wollen? Waren ihm die Vorbilder ausgegangen und er hatte sich daher eine Märchengestalt ausgedacht? Oder liebte Vater vielleicht eine besondere Geschichte, in der so ein Wesen vorkam? Dieses Gesicht war so rätselhaft. Es hatte etwas Majestätisches und trotzdem Gütiges an sich. Die Melancholie in den tiefliegenden Augen rührte einen ans Herz. Stella strich mit den Fingerspitzen sanft über die wilde Mähne, die dieses Gesicht umrahmte. Vorsichtig stellte sie den Springer wieder auf seine Position und verließ nachdenklich Vaters Kammer.

Stella wollte zunächst einmal im Kinderzimmer nach dem Rechten schauen und eventuell Jacob beim Auspacken seiner Kleiderkiste helfen. Aber der große Raum war leer, die Kiste war verschwunden und Jacobs Sachen lagen ordentlich zusammengelegt in dem kleinen Schränkchen. Stella überlegte, wo die Kinder wohl sein konnten und wollte es als nächstes im Schulzimmer versuchen. Auf dem Weg dorthin hörte sie plötzlich leise eine Melodie durch die Tunnel. Sie blieb stehen und lauschte. Es klang wie eine Spieluhr, denn es war immer dieselbe Tonfolge. Woher kam das? Stella ging bis zum nächsten Durchgang, der in einen Korridor mündete, ähnlich wie vor Vaters Kammer. So leise wie möglich ging sie auf den dahinter liegenden Raum zu. Die Melodie wurde lauter. Sie hatte sich also nicht geirrt. Vorsichtig trat sie an den Eingang und sah von dort aus Jacob auf einem riesigen Bett hocken. Er saß im Schneidersitz in die Kissen gekuschelt und presste einen silbernen Bilderrahmen an seine Brust. Neben ihm dudelte eine Spieluhr in Form eines kleinen Karussells immer wieder die gleiche Melodie. Leise, um ihn nicht zu erschrecken, fragte sie: „Jacob, was machst du denn hier so ganz allein? Ist alles in Ordnung?“ Der Junge nickte wortlos mit dem Kopf. Stella trat zögernd ein und setzte sich zu Jacob auf die Bettkante. Sie streichelte sanft sein Gesicht: „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Du siehst so traurig aus!“ Der Junge nickte wieder und flüsterte: „Ich denke nur grad an meine Mami.“ Er lockerte die Umklammerung des Bildes und ließ Stella einen Blick darauf werfen. „Das ist deine Mami?“ fragte sie flüsternd. Jacob nickte wieder nur. Stella schaute erstaunt zwischen dem Foto und Jacobs Gesicht hin- und her. Er war das Ebenbild seiner Mutter – bis auf die Augen! Die hübsche, junge Frau auf dem Foto lächelte mit vollen, roten Lippen sanft in die Kamera. Das zarte Gesicht wurde von rotbraunem Haar umschmeichelt. Die langen, schwarzen Wimpern umrahmten wunderschöne, graugrüne Augen, in deren Blick eine rätselhafte Melancholie lag und Stella an irgendjemanden erinnerte. Sie überlegte angestrengt, bei wem sie das letzte Mal diesen Gesichtsausdruck gesehen hatte, kam aber nicht drauf. Die Liebe und Zärtlichkeit, die diese Augen aussandten, konnte man beinahe spüren. Wenn ihr Charakter genauso schön gewesen war wie ihr Gesicht, dann verwunderte es Stella nicht, dass sie bei allen hier unten so beliebt gewesen war. Dass der Kleine und sein Vater diese Frau hatten hergeben müssen, tat ihr unendlich leid. Sie hätte sie sehr gern kennengelernt. „Deine Mami ist eine wunderschöne Frau gewesen. Sie ist bestimmt der schönste Engel im ganzen Himmel.“ flüsterte sie dem Kleinen zu. Jacob strahlte Stella dankbar an, als hätte sie ihm dieses Kompliment gemacht. Sie nahm den Knirps in die Arme und drückte ihn an sich. Überraschenderweise umschlang er sie mit seinen Ärmchen und kuschelte sich an sie, während er weiterhin das Foto betrachtete. So saßen sie unbeweglich beieinander und genossen den Moment. Stella fühlte sich wieder als Mutter und Jacob bekam seine mütterlichen Zärtlichkeiten, die er, wie beinahe jedes Kind hier unten, vermisste. Die gute, alte Mary tat zwar ihr Bestes, aber so intensiv, wie diese Kinder es brauchten, konnte sie ihnen nun doch nicht die ersehnten Streicheleinheiten zukommen lassen. Allerdings hatte Jacob ja im Gegensatz zu den anderen Kindern noch seinen Vater. Es war unverständlich, wieso der Kleine dann so nach elterlicher Zuwendung ausgehungert zu sein schien. Wenn Stella es sich recht überlegte, hatte sie von diesem Mann bisher nur reden hören. Gesehen hatte sie ihn noch nicht. Wo war er? Warum kümmerte er sich so wenig um seinen Sohn? Wieso überließ er Jacob so lange Zeit Mary und den anderen? Sie verstand das nicht. Ein lieberes und unkomplizierteres Kind als Jacob hatte sie selten erlebt. Der Kleine hatte so geweint, weil er wieder in das Kinderzimmer zurück sollte, aber der Vater war hart geblieben. Warum wollte der Mann den Jungen nicht um sich haben? Wie konnte er ihn nur so von sich weisen? Sie seufzte und schüttelte bei diesen Gedanken den Kopf. Wie sehr sie sich irrte, ahnte sie nicht.

Während Stella den Kleinen sanft wiegte und dabei zärtlich seinen Haarschopf streichelte, blickte sie sich ein wenig in der Kammer um. Diese war mit ähnlichen Möbeln ausgestattet wie Vaters Raum. In der Mitte stand ebenfalls ein achteckiger Tisch, der allerdings kleiner war, jedoch genau so mit Büchern und Zeitschriften überladen. Daneben ein großer Armsessel mit ziemlich durchgesessenen Lederpolstern. Auch die Figur am Eingang war die gleiche griechische Wasserträgerin wie die vor Vaters Schlafnische. Die Besonderheit dieses Raumes bestand in einem großen, halbrunden Fenster mit bunter Bleiverglasung. Unter dem Fenster stand das Bett. Eine alte Tiffanylampe hing von der Decke und eine ähnliche stand auf dem Nachttisch. Der Rest der Möblierung bestand, wie auch in den Räumen der anderen Bewohner, aus alten Schränken, ramponierten Kommoden und schweren Truhen. Überall stand gesammelter Zierrat herum, der nicht unbedingt auf seinen Besitzer schließen ließ. Zwischen zerkratzten Schwertern himmelten sich kleine Porzellanengel gegenseitig an und neben einem alten Röhrenradio stand eine angeschlagene Kristallvase mit einer künstlichen, langstieligen Rose. Dazwischen, wie sollte es anders sein, Bücher, Bücher, Bücher!

Am Fußende des Bettes stand ein kleiner runder Tisch mit weißem Spitzendeckchen. Darauf waren eine Vase mit frischen Rosen und eine kleine Büste drapiert, in der sie die Frau von dem Foto wiedererkannte! Daneben brannten auf einem silbernen Kandelaber drei weiße Kerzen. Auf die freie Stelle zwischen den Rosen und dem Kerzenständer gehörte vermutlich der Bilderrahmen, den Jacob zärtlich streichelte.

Stella fiel plötzlich ein, dass sie ungebeten in den privaten Raum eines Fremden eingetreten war und wollte nun lieber wieder diesen Ort verlassen, bevor der Mann, der hier wohnte, zurückkam und sie vielleicht erwischte. Sie löste sich sanft von dem Jungen und stand auf. „Mary hat mich gebeten, nach den anderen Kindern zu sehen. Möchtest du noch hier bleiben oder begleitest du mich?“ fragte sie. Jacob überlegte einen kleinen Augenblick. Dann sprang er vom Bett und stellte die Spieluhr vorsichtig und sorgfältig in einen großen Kleiderschrank. „Daddy wird sonst böse, weißt du!“ erklärte er, während er den Schrank verschloss und den Schlüssel in eine kleine Schatulle legte. „Ich darf die Spieluhr eigentlich nicht nehmen. Er hat sie nämlich von Onkel Devin bekommen, als er noch klein war. Einmal hab ich sie schon fallen lassen und da war sie kaputt. Da hat Daddy mir verboten, sie zu nehmen, wenn er nicht dabei ist.“ Dann schaute er sich um, als kontrolliere er, dass auch ja nichts darauf hinwies, dass er was Verbotenes getan hatte. Stella schmunzelte über seine kindliche Umsicht. Nachdem Jacob sich vergewissert hatte, dass der Papa nichts merken würde, nahm er Stella bei der Hand und zog sie in den Tunnel.

Es war inzwischen Mittag geworden und es duftete nach Gemüsebrühe und Äpfeln. Stella knurrte automatisch der Magen. Sie ließ sich bereitwillig von Jacob, dem es nicht anders zu gehen schien, in Richtung Küche ziehen. Man hörte aus dem großen Gemeinschaftsraum, der einer mittelalterlichen Taverne glich, geschäftiges Treiben. Da nicht allzu viele Plätze vorhanden waren, war es Gewohnheit geworden, die Kinder zuerst essen zu lassen. Diese standen um den großen Kessel herum, in dem William mit einer überdimensionalen Kelle die heiße Suppe umrührte, und warteten ungeduldig auf ihre Mittagsmahlzeit. Rebecca und Jamie versuchten, die kleinen Raubtiere unter Kontrolle zu halten, während Grace und Mary Teller und Besteck heranschafften. Stella griff unaufgefordert zu. Nebenbei fragte sie: „Wie geht es Mouse? Ist alles in Ordnung?“ Mary antwortete: „Ach, der Junge ist hart im Nehmen. Er hat ein paar Verbrennungen an den Händen. Vater hatte ihn kaum wieder auf die Beine gestellt und die Wunden versorgt, da war er schon wieder dabei, sein Projekt zu verbessern, damit so etwas ja nicht noch einmal passiert! Und womöglich noch jemand anderen als ihm!“ Mary lächelte. „Er ist schon ein lieber Kerl. Immer hilfsbereit und um die anderen besorgt.“ Jamie, die zwischen den Kindern stand, hatte Mary’s Lob gehört und freute sich für ihren Freund.  Sie lächelte, als hätten die Worte ihr gegolten und bekam vor Stolz rote Wangen.

William gab den Startschuss zur Essensausgabe. Jedes der Kinder griff sich einen Teller und stellte sich artig in die Schlange. Mit Suppe und Apfel bewaffnet suchte sich jedes einen Platz. Nach dem Tischgebet hörte man nur noch leise Gespräche, genießerisches Schmatzen und Schlürfen. Die Jüngsten wurden gefüttert. Grace hatte ihr Baby auf dem Schoß und versuchte, den Löffel in den Mund ihres kleinen Noah zu bekommen. Dem schien allerdings entweder der Brei nicht zu schmecken oder er hatte keinen Hunger. Jedenfalls fing seine Mami schon an zu schwitzen, weil sie keinen Erfolg mit ihren Bemühungen hatte. Dem Kleinen machte es großen Spaß, mit seinen molligen Händchen nach dem Löffel zu greifen und dabei gleichmäßig das Essen auf der Kleidung zu verteilen. Plötzlich flog der Löffel in hohem Bogen durch die Luft und fiel laut klappernd in die Abfalltonne, die in drei Metern Entfernung an einer Wand stand. Noah quietschte dabei vor Vergnügen und strampelte mit den dicken Beinchen, so dass er fast vom Schoß seiner Mutter rutschte. „Das hältst du also von meinen Kochkünsten!“ brummte William, die Hände in die Seiten gestemmt. Die Kinder lachten laut und die Frauen schmunzelten in sich hinein. Doch der dicke Koch verstand in dieser Hinsicht keinen Spaß und blickte böse um sich. Sofort verstummte das Gelächter und die Köpfe sanken so tief auf die Tische, so dass sie beinahe in die Teller tunkten. Nur Jacob saß aufrecht und stocksteif auf seinem Stuhl und starrte mit offenem Mund hochkonzentriert in die Ferne. Dann ließ er klirrend den Löffel auf den Teller fallen und rannte aus dem Raum.

„Jacob!“ rief Stella dem Jungen verwundert nach und wollte ihm folgen. Doch Mary legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und erklärte: „Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung mit ihm. Er spürt, dass sein Vater heimkommt und läuft ihm entgegen.“ Als sie Stella’s verwirrten Blick bemerkte, erklärte sie weiter: „Die beiden haben ein ganz besonderes Verhältnis zueinander, weißt du? Was der eine spürt, spürt auch der andere, egal, wo sich beide in dem Moment befinden.“ Stella war verblüfft. „Vincent ist oft sehr weit weg von hier, um die Tunnel und die Eingänge zu kontrollieren.“ warf Jamie ein. Mary übernahm wieder das Wort: „Unsere Welt hier unten dehnt sich über, oder vielmehr, unter ganz New York aus. Da wir ja hier unten keine Fahrzeuge einsetzen können, wie die Leute in der Welt über uns, muss Vincent seine Kontrollgänge zu Fuß absolvieren. Das dauert natürlich seine Zeit und manchmal ist er mehrere Tage unterwegs. Dann verfällt Jacob öfter in diese Art von Trance. Man könnte meinen, die beiden würden miteinander telepatisch kommunizieren. Aber es ist doch noch irgendwie anders, da es sich um Gefühle handelt und nicht um Gedanken.“ Nun verstand die junge Frau gar nichts mehr. „Es ist schwer zu erklären.“ entschuldigte sich Mary.  Jamie versuchte, es verständlicher zu machen: „Mary meint, wenn Jacob zum Beispiel Angst hat, dann spürt Vincent diese Angst und spendet ihm mit seinem starken Gefühl der Furchtlosigkeit Trost und Mut, verstehst du? Er kann ihm also helfen, diese Angst zu überwinden, egal, wo er sich gerade befindet. Auf diese Weise teilen die beiden auch Freude miteinander. Vincent kann spüren, ob sein Sohn zufrieden und glücklich ist.“ Stella staunte. „Ich habe über dieses Phänomen zwar schon gelesen, es aber für übertrieben gehalten. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das funktioniert, noch dazu über größere Entfernungen.“ Mary entgegnete: „Die Strecke von Chinatown bis hierher ist noch gar nichts! Vincent hatte zu Jacobs Mutter die gleiche Art von Verbindung. Sie nannten es immer „ihr Band“.  Er hat ihr sogar auf Grund dieser besonderen Gabe über den Kontinent hinweg das Leben retten können.“ Sprachlos schaute Stella von einer Frau zur nächsten, um festzustellen, ob man sie nur auf den Arm nehmen wollte, aber alle nickten bestätigend. Doch auf Grund dieser Erklärungen bekam sie nun so eine Idee, wieso der Mann so selten hier war und es ihn überhaupt nicht zu seinem Sohn zu ziehen schien. Dieser Vincent brauchte sich natürlich keine Sorgen um den Kleinen zu machen, wenn dieser ihm auf diese Art mitteilen konnte, dass alles in Ordnung war. Außerdem wusste er ihn ja auch bei Mary in guter Obhut. So war es ihm möglich, unbeschwert seiner Aufgabe nachzugehen. Wenn sie Jamie richtig verstanden hatte, war er wohl hier unten für die Ordnung und Sicherheit verantwortlich.

Die Kinder waren inzwischen mit ihrer Mahlzeit fertig geworden. Nach dem Essen war eine Chorprobe für die Weihnachtsaufführung angesetzt und alle wollten pünktlich im Schulzimmer sein. Eilig machten sie also Platz für die Erwachsenen, die nach und nach eintrafen. Unter ihnen waren auch Vater und der verarztete Mouse. Der trug demonstrativ seine verbundenen Hände vor sich her. Als Jamie ihn den Raum betreten sah, sprang sie sofort auf und lief ihm entgegen. Der junge Mann bemerkte die Sorge in ihren Augen und beruhigte sie mit einem tapferen Lächeln. Doch er vergaß auch nicht, dabei vor Schmerz das Gesicht zu verziehen, um eine gehörige Portion Mitleid zu bekommen. Jamie nahm für ihn und sich die gefüllten Suppenteller entgegen und brachte sie zu einem freien Tisch. Es war rührend, mit anzusehen, wie sie ihn umsorgte und er ließ sich das gern gefallen. Es kam nämlich nicht allzu oft vor, dass seine Freundin so liebevoll mit ihm umging. Das Mädchen legte normalerweise ihm gegenüber einen ziemlich ruppigen Ton an den Tag. Der blonde, etwas untersetzte junge Mann hörte ihn zwar nicht immer gern, aber er half ihm des Öfteren auf die Sprünge, wenn er sich mal wieder schwer tat, etwas zu begreifen. Es gab allerdings auch Gelegenheiten, da brauchte Jamie noch nicht einmal etwas sagen. Dann reichte es aus, ihn nur mit einem ganz bestimmten Blick anzufunkeln und er gehorchte wie ein Hündchen. Er war schon lange in sie verliebt und würde für sie alles tun. Allerdings quittierte sie seine kleinen Liebesbeweise meist nur mit einem knappen und nicht gerade überschwänglichen „Danke“, was ihn manchmal schon enttäuschte. Wenn er dann schon mal von ihr verwöhnt wurde, genoss er das natürlich auch ausgiebig. Man musste dazu allerdings schon ein bisschen dicker auftragen, denn dieses Mädchen war leider nicht gerade der mitleidige und mütterliche Typ. Und so stöhnte er nun öfter, als unbedingt notwendig, leise auf und kniff vor angeblichem Schmerz die Augen zu. Als Jamie ihm tröstend den Handrücken streichelte, grinste er verschmitzt in sich hinein und hielt ganz still. Diese kargen Zärtlichkeiten musste man unbedingt auskosten!

Vincent war vier Tage unterwegs gewesen, um die Zugänge, Barrikaden und Alarmsysteme der am südlichsten gelegenen Tunnel zu kontrollieren. Er hatte einige Stützbalken erneuern müssen, ein verrostetes Schloss repariert und ein paar Rohre abgedichtet. Am Zugang, der hinter der Subway-Station Whitehall Str. lag, stellte er fest, dass sich irgendjemand zu weit in die Tunnel vorgewagt hatte. So hatte er Geröll und Schutt zusammengetragen und damit eine Sackgasse geschaffen. Es war schwere Arbeit gewesen, die zwei starke Männer ordentlich zum Schwitzen gebracht hätte, aber Vincent zog es vor, solche Kontrollgänge und Reparaturen allein durchzuführen. So konnte er auf dem Weg durch die stillen Katakomben und Tunnel seinen Gedanken nachhängen und brauchte mit niemandem reden. Seit dem Tod seiner geliebten Catherine war er ein sehr introvertierter Mann geworden. Er wollte und brauchte die Einsamkeit, um seinen Gefühlen auch einmal freien Lauf lassen zu können. Wenn er in den Pausen am Feuer saß und seine Gedanken in sein Tagebuch schrieb, dann kam es schon mal vor, dass er weinte oder auch wütend Gegenstände an den Tunnelwänden zerschmetterte.

Obwohl Catherine’s entsetzliche Ermordung jetzt fünf Jahre zurücklag, fehlte sie ihm so sehr, dass er manchmal glaubte, nicht weiterleben zu können. Der Hass auf ihren Mörder, der ihm auch noch seinen neugeborenen Sohn entführt hatte, war nach all den Jahren nicht abgeflaut. Vincent müsste eigentlich Genugtuung verspüren, da der Mann seine gerechte Strafe erhalten hatte, denn er war tot. Aber für seinen Geschmack hatte dieser Verbrecher vorher viel zu wenig gelitten. Die Erinnerung an die sterbende Geliebte in seinen Armen, ihre letzten Worte und ihre streichelnde Hand auf seiner Wange taten ihm immer noch körperlich so sehr weh, dass es ihm fast die Sinne raubte. Jedes Mal dachte er, er könne nicht mehr weiterleben. Aber dann gab ihm ein Herzschlag, der nicht der seine war, den Lebenswillen zurück. Das waren die Momente, in denen er die Lebensfreude oder auch Schmerz und Sehnsucht seines Sohnes fühlte. Der Gedanke an Jacob hatte ihn schon mehrfach davon abgehalten, lebensgefährliche Dummheiten zu begehen. So hatte Vincent am Abend zuvor dicht an einer starkstromführenden Leitung der U-Bahnstrecke gestanden und die Hand bereits ausgestreckt. Der Gedanken, einfach zuzugreifen und es endlich hinter sich zu bringen, war ihm mehr als nur einmal durch den Kopf geschossen. Doch im selben Moment, es musste die Zeit der Vorlesestunde gewesen sein, als Jacob bei Stella auf dem Bett saß und Mary beim Geschichten erzählen zuhörte, sandte ihm der Kleine ein ungewöhnlich starkes Gefühl von Glück und Geborgenheit. Das hatte den Mann dazu veranlasst, erschrocken die Hand wieder wegzuziehen und hastig einen großen Schritt zurückzutreten. Er war hinterher entsetzt über sich selber gewesen, da er doch genau wusste, welch großen Kummer er damit Vater, Jacob und der gesamten Gemeinde machen würde. Vor allem hoffte er inbrünstig, dass sein Sohn die todessehnsüchtigen Empfindungen, die ihn in diesem Augenblick total einnahmen, nicht empfangen hatte.

Am Morgen danach hatte Vincent sich auf den Heimweg gemacht. Seine Gedanken waren bei seinem Jungen. Das schlechte Gewissen trieb ihn schneller als gewöhnlich voran, weil er nicht genau wusste, ob er mit seiner unbedachten Aktion dem Kleinen vielleicht Leid zugefügt hatte. Nichts lag ihm ferner! Er wollte und musste doch als Vater für ihn da sein, ihm Mut und Trost spenden. Wie hatte er sich nur so gehen lassen und diesem Anfall von Lebensmüdigkeit nachgegeben können?! Aber er konnte keine ängstlichen Empfindungen seines Sohnes empfangen, also schien es dem Kleinen gut zu gehen.

Im diesem Augenblick hatte er die oberste Stufe der großen Wendeltreppe erreicht, als ihn ein extrem starkes Glücksgefühl entgegenschoss. Er beschleunigte seine Schritte, rannte fast durch die Gänge. Als er die Treppen der Kammer der Winde betrat, stand auf der obersten Stufe sein kleiner Sohn. Beide blieben einen kurzen Augenblick stehen und sahen sich strahlend in die Augen. Vincent breitete die Arme aus und Jacob flog direkt hinein. „Daddy!“ murmelte der Junge und bemühte sich, seine kleinen Ärmchen um die breiten Schultern des Vaters zu legen. Vincent drückte den Kleinen an sich und wiegte ihn zärtlich hin und her. Beide genossen die Nähe und es bedurfte keiner weiteren Worte, um zu wissen, was der andere jetzt fühlte. Nach einer Weile stemmte sich Jacob leicht von der Schulter seines Vaters und sah ihm ernsthaft ins Gesicht. „Das ist so schön, dass du wieder da bist, Daddy!“ Er drückte seinem Papa einen ziemlich feuchten Kuss auf die Wange. „Ich freue mich auch, dass ich wieder hier bin. Du hast mir gefehlt, mein Kleiner!“ Er sah Jacob prüfend ins Gesicht: „Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?“ Jacob nickte und wollte runtergelassen werden. Er nahm seinem Vater die, für ihn viel zu große, Umhängetasche ab und zerrte sie die Stufen hoch. Dabei erzählte er, was er alles Neues gelernt und Interessantes gesehen hatte. Er berichtete von Stella, die so schön malen konnte, ihm beim Lesenüben half und ihn bei der Abendgeschichte in den Arm nahm. Er schwärmte förmlich von dieser Frau. Aber er erzählte auch von den vielen Bildern, die die Kinder gemalt hatten, dass nun endlich seine Kiste ausgepackt war und auch von dem fliegenden Babylöffel. Vincent ging langsam hinter dem Jungen her und hörte sich mit einem Schmunzeln geduldig das Geplapper an. Er war so froh, dass Jacob anscheinend nichts von seinen absurden Gedanken mitbekommen hatte, denn dann würde der Kleine sich anders verhalten. Und er wusste nun auch, wieso er von Jacob öfter als gewöhnlich dieses Glückgefühl empfangen hatte. Diese Stella schien ja auf den Jungen einen starken Eindruck gemacht zu haben. Man konnte fast meinen, der Kleine hätte sich verliebt. Und mit dieser Idee lag Vincent auch gar nicht so falsch.

Kurz bevor die beiden Vincents Kammer betraten, kam ihnen Kipper entgegen, der einen Zettel in der Hand hielt. Er begrüßte Vincent herzlich und sagte: „Hallo, Vincent! Ich wollte dir gerade eine Nachricht von Vater auf den Tisch legen. Es soll eine kurze Ratsversammlung stattfinden. Du musst natürlich auch kommen. Es geht um Stella und ob sie hier bei uns bleiben darf.“ Vincent legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und antwortete: „Danke, Kipper. Bitte sag Vater, dass ich mich nur schnell wasche und umziehe. Danach komme ich.“ Kipper nickte knapp und wollte schon gehen, drehte sich dann aber noch einmal kurz um und meinte lächelnd: „Schön, dass du wieder da bist.“ Dann wandte er sich um und flitzte davon.

Als Vincent seine Kammer betrat, fiel sein Blick als erstes auf das Bild seiner Cathy, das auf dem Bett lag und nicht an seinem gewohnten Platz stand. Er wusste, dass der Junge sich öfter heimlich hier her verzog, das Foto seiner Mami an die Brust drückte und davon träumte, wie es wohl wäre, wenn sie bei ihnen sein könnte. Es war der gleiche Traum, den auch er sehr oft träumte. Vincent nahm seinen staubigen Umhang von den Schultern und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen. Er nahm das Bild in die Hand und streichelte sanft mit dem Daumen über das kalte Glas. Er bildete sich allerdings dabei ein, er würde Cathy’s zarte Wange berühren. Sehnsüchtig seufzend stellte er den silbernen Bilderrahmen wieder an seinen Platz auf dem kleinen Tisch, zwischen die Rosen und die Kerzen.

Jacob sah seinem Vater schuldbewusst dabei zu und versuchte zu erklären: „Daddy, ich hab… ich wollte...“ Er fand irgendwie nicht die richtigen Worte, darum sagte er einfach nur: „Bitte nicht böse sein!“ Vincent kniete vor seinem Sohn nieder und umfasste mit seinen verhältnismäßig riesigen Händen die schmalen Schultern des Jungen. Er sah ihm verständnisvoll ins Gesicht und sagte sanft: „Aber Jacob, wie könnte ich dir denn böse sein! Du hast alles Recht der Welt, dir die Mami anzusehen und an sie zu denken, wann immer dir danach ist, verstehst du? Nur bitte, geh sorgsam mit dem Bild um. Es ist das Einzige, das wir von ihr haben!“ Jacob schluckte und nickte. Vincent nahm den Kleinen zärtlich in die Arme und drückte ihn fest an sich. Er spürte, wie der Junge aufatmete und lächelte in sich hinein. Dann löste er sich von Jacob und stand schwungvoll auf. „So, dann wollen wir uns mal ein bisschen beeilen. Wenn Vater den Rat so kurzfristig zusammen ruft, dann muss das mit dieser Stella ja ziemlich dringend sein.“ sagte er, während er Wasser aus einer Wasserkanne in eine Waschschüssel goss. Er legte sein Hemd ab und spülte sich den Staub von Gesicht und Oberkörper. Der Rest musste warten, bis er Zeit für ein ausgiebiges Bad fand. Jacob saß auf dem großen Lehnstuhl, in dem er fast versank und sah seinem Papa beim Waschen zu. Er bewunderte die muskulösen Arme und den mächtigen Oberkörper. Er wollte später auch einmal so stark werden. Nur diese vielen Haare auf der Brust wollte er nicht haben. Er erklärte mit wichtiger Miene: „Ja, das ist auch ganz doll wichtig. Stella soll ja weiter hier wohnen, damit sie mir beim Lesenüben helfen kann. Und sie kann so wunderschöne Bilder malen. Und dann erzählt sie immer schöne Geschichten aus ihrer Kinderzeit in Sch….Schwie…Schwe…, na von da, wo sie herkommt. Und sie ist ganz lieb!“ Vincent schüttelte den Staub aus dem Haar, zog sich ein sauberes Hemd und die Steppweste, die seine Schultern noch breiter aussehen ließ, über und legte den obligatorischen Ledergürtel an. Ohne es zu wissen, betonte er damit seine ohnehin schon sehr beeindruckende Figur auf’s Vorteilhafteste. „Na, du bist ja ganz begeistert von ihr! Du willst also, dass sie hier bleibt?“ Jacob nickte eifrig. „Dann wollen wir sie uns doch mal anschauen und hören, wie die Anderen über sie denken.“ Er stand vor seinem Sohn stramm und fragte: „Bin ich sauber? Kann ich so unter die Leute gehen?“ Jacob spielte den strengen Kontrolleur und wies seinen Daddy an, sich zur Begutachtung im Kreis zu drehen. Schmunzelnd tat der große Mann dem Kleinen den Gefallen und spielte mit. Der Junge hatte sich auf den Stuhl gestellt, die Ärmchen in die Seiten gestemmt und machte ein verkniffenes Gesicht. „Na ja, geht so!“ Im nächsten Moment kauerte er sich zusammen, weil er wusste, was passieren würde. Vincent schoss auf ihn zu und kitzelte ihn ab: „Was heißt hier ‚geht so’?! Sowas Respektloses! Na warte, du Früchtchen!“ Jacob quietschte vor Lachen und wand sich in den starken Armen seines Vaters wie ein Aal, allerdings chancenlos. Vincent warf sich den Knaben über die Schulter und verließ den Raum. Auf dem Weg zu Vaters Kammer lud er seine Last im Schulzimmer ab, wo die Chorprobe in vollem Gange war. Danach wollte er noch schnell in der Küche nach etwas Essbaren schauen, damit sein Magenknurren nicht sie Ratssitzung störte. Die Mittagszeit war zwar schon vorbei, aber sein Freund William würde ihm sicher ein Sandwich zurechtmachen.



[editiert: 22.11.09, 11:59 von sheena]
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden ICQ-Nachricht an dieses Mitglied senden
Gaya

Administrator

Beiträge: 5973
Ort: somewhere


New PostErstellt: 17.11.09, 14:59  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

da isses ja, das Sandwich... *lol*

hab leider noch keine Zeit zum Lesen gefunden, kommt noch.



____________________
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden
schneeeule
Tunnelexperte


Beiträge: 2296


New PostErstellt: 17.11.09, 18:48  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Da hast Du wieder eine schöne Fortsetzung geschrieben!

So viele Kleinigkeiten ... der fliegende Löffel, Jacob beim Bild anschauen ...
Einfach toll und ganz nach meinem Geschmack.




nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden
sheena
Tunnelexperte


Beiträge: 925
Ort: berlin


New PostErstellt: 17.11.09, 19:10  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

*rot wird: danke!
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden ICQ-Nachricht an dieses Mitglied senden
schneeeule
Tunnelexperte


Beiträge: 2296


New PostErstellt: 17.11.09, 19:18  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Da beneide ich Dich um Deine Phantasie. Ich würde an die vielen kleinen Dinge garnicht denken.

Ich wünsch Dir noch viele neue Ideen (hoffe, Du behältst sie dann nicht für Dich)




nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden
sheena
Tunnelexperte


Beiträge: 925
Ort: berlin


New PostErstellt: 17.11.09, 19:33  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

 neeee, dafür bin ich viel zu schwatzhaft!  

manchmal befürchte ich allerdings, dass ich zu langatmig und zu ausschweifend schreibe. nur ich krieg ja leider kein feedback, nur von dir. also denke ich, dass es so ok ist. freu mich, wenn wenigstens du und meine freundin es lesen und es euch gefällt.



[editiert: 17.11.09, 19:41 von sheena]
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden ICQ-Nachricht an dieses Mitglied senden
schneeeule
Tunnelexperte


Beiträge: 2296


New PostErstellt: 17.11.09, 19:40  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Ich finde es nicht langatmig. Genau richtig.
Deine Geschichte hätt ich gern mal als Folge im Fernsehen gesehen. Das kann ich mir beim lesen gut vorstellen.




nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden
Anja
Tunnelstammgast


Beiträge: 20
Ort: Österreich / Kirchdorf an der


New PostErstellt: 18.11.09, 14:31  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Hi!

Also deine Geschichte hört sich sehr gut an.
Habe gestern schon ein wenig zum lesen angefangen und bin auch fertig geworden.

Spitze wie du das alles beschreibst.
Weiter so.

Bin schon sowas von gespannd wie es weiter geht.
Ich denke sie kann bleiben. Vincent wird das schon machen. Jacob hat ihm ja schon einiges über sie erzählt.
Wer weiss vieleicht verliebt sich ein gewisser jemand in sie.

schöne grüsse
Anja




nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden
sheena
Tunnelexperte


Beiträge: 925
Ort: berlin


New PostErstellt: 18.11.09, 17:49  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

dank dir für das lob.
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden ICQ-Nachricht an dieses Mitglied senden
sheena
Tunnelexperte


Beiträge: 925
Ort: berlin


New PostErstellt: 05.12.09, 18:43  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

11. Kapitel – Die erste Begegnung

 

Nachdem die Leute der Tunnelgemeinde die Mahlzeit beendeten hatten und gegangen waren, half Stella beim Abräumen und Abwaschen. Sie hatte ja sonst nicht weiter zu tun. Außerdem war sie ein bisschen nervös, weil sie noch auf das Ergebnis der Ratssitzung warten musste. Hier zu helfen hatte sie ein wenig von ihren Gedanken abgelenkt. Aber nun war die Arbeit erledigt, doch sich irgendwo still hinsetzen und abwarten konnte sie einfach nicht. Stella entschloss sich, einen kleinen Spaziergang zur Flüstergalerie zu machen. Auf dem Weg durch die Tunnel überlegte sie, wie sich die Gemeinde wohl entscheiden würde. Sie hatte ja Vater gegenüber schon betont, dass sie gar nicht erwartete, hier in diesem Teil der Tunnel leben zu dürfen. Aber wenigstens ihre Abstellkammer sollten sie ihr lassen. Und vielleicht durfte sie auch ab und zu als Besucher hierher kommen und ein wenig Zeit mit Jacob verbringen. Dieser kleine, süße Junge war ihr in der kurzen Zeit so sehr ans Herz gewachsen. Sie fühlte sich mit diesem Kind mehr verbunden als mit ihrem eigenen Sohn. Wenn man beschloss, dass sie wieder gehen sollte, würde der Junge ihr am meisten fehlen.

Ein Geräusch riss Stella aus ihren Gedanken. Was sie hörte, waren schwere Schritte, die auf sie zukamen. Im nächsten Moment füllte eine riesige Silhouette den vor ihr liegenden Durchgang aus. Stella war zu Tode erschrocken. Sie blieb, wie zur Salzsäule erstarrt, stehen und meinte, ihr Herz würde augenblicklich aufhören, zu schlagen. Sie sah nur diese mächtige Gestalt, die der ihres Ex-Mannes so ähnlich war und ihre Beine fingen an zu zittern. Sie fühlte, wie sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten und ihr die Luft wegblieb. Panik machte sich in Bruchteilen von Sekunden in ihr breit. „David!“ keuchte sie tonlos. „Geh weg!“ Sie kam gar nicht auf die Idee, dass es nahezu unmöglich war, dass er und seine Männer sie hier unten suchten, geschweige denn, fanden. Sie sah nur die große Gestalt und war überzeugt, dass es David war. Flashbacks schossen durch ihren Kopf. Sie sah sich wieder am Boden liegen und David mit erhobenen Fäusten über sich. Sie spürte wieder die Schläge in ihrem Gesicht und die Tritte auf ihrem Körper. Mit angstgeweiteten Augen starrte sie auf den Schatten in dem Durchgang. Die Gestalt löste sich von der Tunnelwand und machte einen Schritt auf sie zu. „Geh weg!“ kreischte Stella mit einer angsterfüllten Stimme, die nicht mehr die ihre zu sein schien. Sie ging zwei, drei Schritte rückwärts, nicht in der Lage, die Augen von der vermeintlichen Gefahr, die da auf sie zukam, zu nehmen. Dann drehte sie sich blitzschnell um und rannte, ohne darauf zu achten, wohin ihre Flucht sie führte.

Vincent stand erschrocken im Tunnel und wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. Er hatte nicht damit gerechnet, einer Fremden hier zu begegnen. Das konnte nur diese Stella gewesen sein. Und bevor er etwas hatte sagen können, war sie auch schon panisch davon gerannt. Wenn er gewusst hätte, dass sie hier allein durch die Tunnel streifte, wäre er vorsichtiger gewesen. Hatte sie denn niemand vorbereitet? Sie war doch nach Jacobs Erzählungen so oft mit dem Jungen zusammen gewesen. Warum hatte sie dann keiner vorgewarnt? Es musste doch jedem klar gewesen sein, dass sie beide unweigerlich irgendwann aufeinander treffen würden! Er entschied, der Frau nachzulaufen. Sie kannte sich hier unten nicht aus und es gab eine Menge Gefahrenstellen, in die sie zu geraten drohte. Er übermittelte eine schnelle Nachricht über die Rohre und nahm dann die Verfolgung auf. Die Richtung, die diese fremde Frau eingeschlagen hatte, führte genau zu den Wasserfällen.

Die Ratsmitglieder hatten sich bereits in Vaters Raum versammelt und warteten auf Vincent, dessen Rückkehr sich schon durch die Kinder herumgesprochen hatte. Ho und Jamie hockten auf den Stufen der Wendeltreppe und unterhielten sich flüsternd über Frauenangelegenheiten. Cullen hatte sich als Sitzplatz eine freie Ecke des großen Schreibtisches gesucht und schnitzte an einem Stück Holz herum. Pascal saß entspannt zurückgelehnt in einem der Armsessel und lauschte mit geschlossenen Augen dem Stakkato der Klopfzeichenmelodien in den Rohren. William trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum und brummte unverständliches Zeug in sich hinein. Mary saß mit ihrem Strickzeug auf den Knien neben Vater, der missbilligend auf Cullens Hände starrte. Zu dessen Füßen hatte sich bereits ein kleiner Spanhaufen gebildet. Mouse rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin- und her. Auch er gehörte inzwischen zum Rat, da er sozusagen der technische Leiter der Gemeinde war. Doch er hatte weitaus Wichtigeres zu tun, als darüber zu beraten, wer hier wohnen durfte und wer nicht. Ihm waren alle Leute recht, solange sie ihn nicht bei seinen Projekten behinderten oder ihm Vorschriften machten. Das taten Vater, Cullen und Jamie schon zur Genüge. Plötzlich setzte sich Pascal kerzengerade auf und verlangte mit einem kurzen, aber bestimmten „Pssst!“ absolute Ruhe von den Anwesenden. Als diese sein konzentriertes Gesicht bemerkten, horchten auch sie genauer auf die Signale in den Leitungen. Vater bemerkte leise: „Das ist Vincent!“ Pascal nickte und ergänzte: „Es ist was passiert. Er ist auf dem Weg zum Wasserfall und kommt später!“ Jamie fragte: „Ob er Hilfe braucht? Vielleicht sollte jemand von uns nachschauen gehen?“ Mouse war das nur zu recht und rief aufgeregt: „Ja, Vincent hilft Mouse auch immer, also wird Mouse auch für Vincent da sein. Ich gehe und helfe!“ Schon sprang er auf und lief in Richtung Ausgang. Jamie rief ihm nach: „Du mit deinen kaputten Händen kannst ihm doch gar nicht helfen! Warte, ich komme mit!“ Damit war auch sie im Tunnel verschwunden. Vater schüttelte resigniert den Kopf und seufzte. Ob es mal einen Tag gab, an dem sie nicht irgendeine mittlere Katastrophe heimsuchte? „Na gut“ meinte er dann, „solange wir auf Vincent warten, kann ich euch ja schon mal berichten, worum es hier heute gehen soll.“ Er begann, Genaueres von Stella zu erzählen, damit nachher entschieden werden konnte, ob man sie in die Gemeinde aufnehmen sollte oder nicht.

Stella war am ganzen Körper vor Angst bebend und völlig atemlos erst an der Hängebrücke wieder stehen geblieben. Ihre Beine waren kurz davor, ihr den Dienst zu versagen. Sie war durch die Krankheit für solche Anstrengungen noch viel zu schwach, aber die entsetzliche Furcht vor David und seinen Schlägern hatte sie sämtliche Kräfte mobilisieren lassen. Doch jetzt musste sie erst einmal kurz verschnaufen. Sie fiel auf die Knie und legte den Kopf in den Nacken, um tief durchzuatmen. Doch kaum war sie ein wenig zu Atem gekommen, hörte sie erneut Schritte hinter sich. Da war er wieder, dieser riesige Mann. Sie rappelte sich auf und wollte über die schwankende Hängebrücke hetzen. „Bleib stehen! Das ist gefährlich!“ hörte sie eine tiefe, heisere Stimme rufen! Sie klang beinahe ängstlich und besorgt, doch das nahm sie in ihrer Hysterie gar nicht wahr. Erneut schoss Stella die grenzenlose Angst in die Glieder und gab ihr die Kraft, trotz der Warnung über die Brücke flüchten. Sie schaffte einen oder vielleicht auch zwei Meter, dann glitt sie auf den nassen Planken aus und stürzte. Sie schrie auf und versuchte, sich festzukrallen, doch ihre Hände fanden nirgends einen Halt. Wie in Zeitlupe rutschte sie von der Brücke. Stella keuchte vor Angst und Panik. „Das war’s!“ dachte sie. „Ein zweites Mal werde ich kein Glück haben und hier heile rauskommen!“ Ihre Füße berührten beinahe schon die Wasseroberfläche, da fühlte sie, wie etwas derb ihren rechten Unterarm umfasste und sie in emporzog. Im nächsten Moment lag sie bäuchlings auf festem Untergrund. Ihr Atem raste, das Herz überschlug sich beinahe und ihr war übel vor Angst. Stella lies die Stirn auf die nassen Brückenplanken fallen und schloss erschöpft die Augen. Sie fühlte, wie eine warme Hand sanft ihren Rücken rieb. „Ist alles in Ordnung mir dir?“ fragte eine leise, besorgte Männerstimme. Sie nickte, ohne aufzublicken. Inzwischen war ihr klar geworden, dass derjenige, der sie aus dieser Notlage befreit hatte, nicht David oder einer seiner Kraftprotze gewesen sein konnte. Die hätten seelenruhig daneben gestanden und zugeschaut, wie sie ertrank. „Komm, du kannst hier nicht liegen bleiben! Du wirst wieder krank!“ versuchte die Stimme, sie zum Aufstehen zu bewegen. Er hatte Recht. Stella versuchte, sich zu erheben, doch die Beine gehorchten ihr nicht. Zwei kräftige Arme umfassten ihre Taille und halfen ihr, sich aufzurichten. „Ich danke dir! Du hast mir das Leben gerettet!“ keuchte Stella tonlos und krallte sich an der Hand fest, die ihr aufhelfen wollte. Sie fühlte Haar, viel Haar und meinte, es wären Handschuhe. Doch dann sah sie derbe Finger, deren Enden mit langen, spitzen Krallen ausgestattet waren. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen und sie zog erschrocken ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Stella wandte den Kopf und sah in das Gesicht des Mannes, dem die Hand gehörte, in das Gesicht ihres Retters. Sie war zu Tode erschrocken über das, was sie sah. Das konnte doch nur ein Alptraum sein. Sie fing an, wie wild um sich zu schlagen und Vincent abzuwehren. Ihre Arme flogen ihm wie Windmühlenflügel entgegen, so dass er Mühe hatte, auszuweichen. In einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit traf sie ihn im Gesicht. Ihre Fingernägel hinterließen auf seiner linken Wange kleine rote Streifen. Vincent brüllte kurz auf und ließ ungewollt reflexartig seine Fänge aufblitzen. Dieser Anblick war zu viel für Stella. In ihrer Panik schrie sie mit aller Kraft um Hilfe, bis ihr die Luft wegblieb. Sie hörte nur noch ein flehendes „Bitte hab doch nicht solche Angst! Ich tue dir nichts!“, dann umfing sie die barmherzige Dunkelheit und Stille der Bewusstlosigkeit.

Vincent kniete ratlos vor der besinnungslosen Frau. Er hätte sie sicher aus der Ohnmacht holen können, aber war es ratsam, sie zu wecken, so, wie sie auf ihn reagiert hatte? Einen Moment lang betrachtete er sie. Die Flechten des langen, blonden Zopfes hatten sich gelöst und das Haar lag wirr über ihrem Gesicht. Vorsichtig strich Vincent die Strähnen beiseite. Er sah nun in ein blasses, aber wunderschönes, zartes Gesicht mit einem Teint wie Alabaster. Über hohen Wangenknochen schwangen sich zwei dunklen Bögen aus langen Wimpern. Er vermutete unter den geschlossenen Lidern blaue Augen. Die schmale, gerade Nase war eigentlich ein wenig zu klein und stupsig, so dass die Frau etwas Kindchenhaftes an sich hatte. Damit ähnelte sie tatsächlich Cathy’s Püppchen, das Jacob immer mit sich herumgeschleppt hatte. Zuletzt blieb sein Blick an ihren vollen, leicht geöffneten Lippen hängen, die in diesem Moment fast weiß waren. Sie musste sich zu Tode erschrocken haben! Es tat Vincent unendlich leid. Er war verärgert, dass man eine Fremde hier unten ohne Begleitung herumlaufen ließ. Was sollte er jetzt nur tun? Er konnte sie unmöglich hier allein lassen, um Hilfe zu holen. Aber sie zu Vater zu tragen, war auch problematisch. Was, wenn sie auf dem Weg dorthin wieder zu sich kam? Doch sie konnte auf keinen Fall hier so liegen bleiben. Vincent musste es riskieren. Er bedauerte, seinen Umhang mit der großen Kapuze nicht dabei zu haben für den Fall, dass die Frau wieder zu sich kam. Damit hätte er sein Gesicht vor ihr ein wenig verbergen können, um sie nicht erneut zu erschrecken. Vincent nahm Stella auf die Arme und stellte fest, dass sie federleicht war. Er beeilte sich, mit ihr auf dem schnellsten Wege zur Krankenkammer zu kommen. Gerade hatte er die nächste Wegbiegung erreicht, da kam ihm Jacob entgegen. Der Junge blieb erschrocken vor seinem Vater stehen und sah auf die bewusstlose Stella. „Daddy, was ist mit ihr? Warum schläft Stella und warum trägst du sie wie ein Baby?“ Vincent ignorierte die Frage und befahl dem Kleinen: „Jacob, lauf und hol Vater in die Krankenkammer! Beeil dich!“ Der Junge sah in das besorgte Gesicht seines Dad’s und schoss ohne eine weitere Frage los.

Vincent hatte kurz darauf mit Stella auf den Armen die Krankenkammer erreicht. Sanft legte er sie auf eines der Betten, deckte sie vorsichtig zu und setzte sich dann in eine dunkle Ecke des Raumes.  Von dort konnte er die junge Frau im Auge behalten, ohne dass sie ihn gleich bemerkte, sollte sie wieder zu sich kommen. Keine zwei Minuten später erschien Jacob mit Vater und Mary im Gefolge. Der Arzt begab sich sofort zu Stella und prüfte ihren Zustand. Vincent raunte leise aus seiner dunklen Ecke: „Sie ist nur ohnmächtig.“ Vater drehte sich in die Richtung, aus der die wohlbekannte, ruhige Stimme kam und fragte: „Was ist denn bloß  passiert?“ Sein Adoptivsohn erhob sich langsam und erklärte mit verlegenem Blick, wieso Stella bewusstlos war. Mary legt mitfühlend die Hand auf Vincents Arm, um ihn zu trösten. „Es ist doch nicht deine Schuld.“ meinte sie leise. Er zuckte mit den Schultern und verließ die wortlos die Kammer.

„Mary, bitte gib mir das Riechsalz.“ bat Vater seine Freundin. Die wühlte bereits in dem Arztkoffer und fand dann auch, wonach der alte Mann verlangt hatte. Er hielt Stella das Röhrchen unter die Nase. Augenblicklich verzog sie angewidert das Gesicht und drehte den Kopf zu Seite. Langsam öffnete sie die Augen und sah verschwommene Umrisse vor sich stehen. Die letzten Sekundenbruchteile vor der Ohnmacht schossen ihr durch den Kopf und sie schlug abermals schreiend um sich. Vater trat erschrocken ein Schritt zurück und machte für Mary Platz, die beruhigend auf Stella einredete. Jacob stand mit offenem Mund daneben und beobachtete die Szene. Als Stella erkannte, wen sie vor sich hatte, beruhigte sie sich langsam und schaute sich, ängstlich an Mary geklammert, im Zimmer um. „Wo bin ich?“ flüsterte sie verschreckt. „Was ist eigentlich passiert?“ Vater setzte sich zu ihr auf die Bettkante und erklärte: „Nun, wir, ich meine, die Ratsmitglieder, haben zusammengesessen und auf Vincent gewartet. Ich hatte dir ja versprochen, dass wir nach dem Mittagessen darüber beraten werden, ob wir dich in unsere Gemeinschaft aufnehmen. Da hörten wir plötzlich….“ weiter kam er nicht. Stella schnitt ihm mitten im Satz das Wort ab: „Ihr braucht gar nicht weiter darüber nachdenken! Ich bleibe nicht hier, auf keinen Fall! Ich werde noch heute meine Sachen packen und aus den Tunneln verschwinden! Und ihr solltet das auch tun!“ Mary fragte erstaunt: „Aber warum denn? Wo willst du denn hin mitten in diesem eisigen Winter, kurz vor Weihnachten, ohne Unterkunft und Nahrung? Was ist denn auf einmal so schrecklich, dass du uns verlassen willst? Und warum, in Gottes Namen, sollen auch wir von hier verschwinden?““ Stella setzte sich auf und sah ungläubig von Vater zu Mary und wieder zurück. „Wisst ihr eigentlich, dass ihr hier unten nicht allein lebt?“ Vater nickte: „Ja, natürlich wissen wir das. Es sind viele Familien und Personen hier unten heimisch geworden.“ Stella schüttelte unwillig den Kopf und unterstrich die Geste mit aufgeregten Handbewegungen: „Nein, nein, nein! Ich meine, wisst ihr, dass hier unten auch etwas lebt, das irgendwie kein Mensch ist? Es ist riesig, geht auf zwei Beinen und hat langes Haar, sieht aber aus wie ein Tier! Mit riesigen Klauen und Reißzähnen! Es hat mich verfolgt“ Vater wusste sofort, wen Stella meinte. Bevor er zu einer Erklärung ansetzen konnte, prustete Jacob los: „Aber das ist doch nur mein Daddy!“ Stella schüttelte wieder den Kopf: „Nein, mein Kleiner, das war sicher nicht dein Dad!“ Vater fragte als nächstes: „Was wollte er denn von dir? Hat er etwas gesagt oder getan?“ Die junge Frau überlegte und nickte dann langsam: „Er hat mir eine Warnung hinterher gerufen, als ich über die Hängebrücke wollte. Ich bin ausgerutscht und wäre fast in den Fluss gestürzt, aber er hat mich festgehalten.“ Ihre Stimme wurde immer kleinlauter, als sie ihr Erlebnis Revue passieren ließ. „Er hat mich gerettet!“ flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Sag ich doch, das war Daddy!“ beharrte Jacob. „Ich hab ja gesehen, wie er dich hierher getragen hat!“ Stella konnte die Worte des Jungen nicht glauben und schüttelte immer noch den Kopf. „Warte!“ sagte er kurz und war dann auch schon verschwunden. Vater saß immer noch dicht neben ihr und sah etwas verlegen auf seine Hände: „Ich glaube, wir haben versäumt, dich in ein sehr wichtiges Geheimnis einzuweihen. Eigentlich wollte ich dir davon erst erzählen, wenn ganz sicher ist, dass du bei uns bleiben wirst. Damit zu warten, war aber offensichtlich ein Fehler. Weißt du – der Mann, den du getroffen hast, der dich so sehr erschreckt hat, ist einer von uns. Auch wenn er anders ist als wir, so ist er doch ein von uns allen sehr geliebtes Familienmitglied. Er ist einfach etwas ganz besonderes.  Und - er ist tatsächlich Jacobs Vater. Du brauchst dich wirklich nicht vor ihm zu fürchten!“

Jacob hatte seinen Vater gesucht und in dessen Kammer auch gefunden. Er saß dort in der für ihn üblichen Haltung, wenn er nachdachte – die Ellenbogen auf die Armlehnen des großen Sessels gestützt und den Blick über die in Kinnhöhe verschränkten Hände hinweg starr auf eine Kerzenflamme gerichtet. „Daddy, du musst mitkommen. Stella glaubt nicht, dass du mein Daddy bist!“ Er hob den großen Umhang auf, der immer noch auf dem Boden lag und reichte ihn wie selbstverständlich seinem Vater. „Nein!“ sagte Vincent leise, aber bestimmt und unterstrich diese Ablehnung mit einem Kopfschütteln. „Sie hat Angst vor mir.“ Jacob bettelte: „Bitte komm doch! Vater und Mary sind doch bei ihr. Das mit dem Umfallen passiert ganz bestimmt nicht noch mal! Ich muss ihr doch zeigen, dass sie sich gar nicht fürchten muss. Bitte, Daddy!“ Als Antwort kam nur ein gequältes „Ach, Jacob!“ Vincent war es immer noch sehr unangenehm, dass er die Frau mit seinem Aussehen so erschreckt hatte. Das war ihm ja schon einige Male passiert, aber noch nie war jemand deswegen in Ohnmacht gefallen. Es hatte aber auch Personen gegeben, die neugierig auf ihn gewesen waren und überhaupt keine Hemmungen gehabt hatten, ihn anzusehen, ihn zu berühren, ihn sogar schön zu finden. Doch er erinnerte sich, dass auch seine Cathy bei der ersten Berührung seiner Hand zurückgezuckt war und beim ersten Blick in sein Gesicht erschrocken aufgeschrieen und mit einem Gegenstand nach ihm geworfen hatte. Damals hatte er genauso empfunden wie heute – er hatte sich geschämt. Nun wollte Jacob unbedingt, dass er sich Stella vorstellte. Die Aussicht darauf, noch einmal in das entsetzte Gesicht dieser schönen, jungen Frau sehen zu müssen, bereitete ihm Unbehagen. Doch irgendwie hatte der Kleine ja Recht. Man würde es auf die Dauer nicht vermeiden können, sich ab und an zu begegnen. Jacob hing an seiner Hand und zerrte ihn in Richtung Ausgang. Widerwillig stand Vincent auf, legte seinen Umhang über die Schultern und ging mit dem Jungen mit.  Doch im Korridor vor der Krankenkammer blieb er unschlüssig stehen und überlegt, ob er nicht doch lieber wieder gehen sollte. Jacob hing immer noch an seiner Hand und wollte ihn wie einen störrischen Maulesel hinter sich herziehen. Doch der große Mann stand wie festgewachsen im Gang. Der Junge ging um seinen Vater herum und verlegte sich aufs Schieben, was ebenso erfolglos war wie das Ziehen. „Los, Daddy! Du bist doch sonst immer so mutig! Hast du etwa Angst?“ Vincent seufzte und nickte kaum merklich. Ja, der kleine Bengel hatte es erfasst – er hatte tatsächlich Angst. Aber es musste wahrscheinlich sein. Also zog er die Kapuze seines großen Umhanges über den Kopf und betrat leise die Krankenkammer.

nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden ICQ-Nachricht an dieses Mitglied senden
schneeeule
Tunnelexperte


Beiträge: 2296


New PostErstellt: 05.12.09, 19:01  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Der arme Vincent.
Hat er wieder jemanden erschreckt und kann nix dafür.

Du hast wieder so realistisch geschrieben. Mir haben von ihren Schreien auch die Ohren geschlackert.




nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden
Sortierung ndern:  
Anfang   zurück   weiter   Ende
Seite: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9
Seite 3 von 9
Gehe zu:   
Search

powered by carookee.com - eigenes profi-forum kostenlos

Design © trevorj