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Ismail Kadare - "Der zerrissene April"

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Latifa
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Beziehung zum Thema Albanien: verheiratet mit Albaner/in
Interessen: Psychologie, Kino, Theater, Musik, Waldspaziergänge.


New PostErstellt: 20.04.11, 10:30  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

Also, Arbria, Bardha und Ismini zuliebe will ich mich auch nochmal äußern, ich finde es schön, dass zumindest ihr mitgemacht habt:

1. Mir hat das Buch sogar sehr gut gefallen, hat sich gut gelesen, war ein spannender Stoff, konnte mich in die Hauptdarsteller einfühlen

2. Mir fiel mal wieder ins Auge, welche Stellung dort die Frauen haben. Als die Frau des einen Mannes von den Brüdern vergew...tigt wird, bietet man ihm als eine Möglichkeit der Buße an, dass er im Gegenzug mit den Frauen der Brüder xx darf. Das ist ja dann doch sehr aufschlußreich. Beim Mann ist es das Blut, das in den Sohn übergeht, bei der Frau die Milch. Frauen und Kinder leben in einem anderen Stockwerk als die Männer, auch das ein Hinweis, dass Frauen nicht als gleichwertig gesehen werden. Und wer sind die Leidtragenden, wenn die Äcker brachliegen und kein Gewinn erwirtschaftet wird? Frauen und Kinder.

3. Ich hab mich natürlich auch gefragt, was in dem Turm vor sich gegangen ist, dass Diana dermaßen erschüttert wieder raus kam. Aber ich will mir gar nicht vorstellen, was für psychische Defekte da im Laufe der Jahre bei diesen untoten Männern aufgetreten sind, die ja kein Leben in diesem Sinne führen, also dürften allein die schlimmen Zustände so ein zartes Wesen wie Diana schon schockiert haben.

4. Besian hat einen hohen Preis dafür bezahlt, dass er mal schauen wollte, wie das in Wirklichkeit so aussieht, worüber er die ganze Zeit so positiv geschrieben hat. Aber er ist und bleibt ein so ignoranter Kerl, dass er nicht aufhört, zu hoffen, dass sich Diana wieder einkriegt und er nicht groß drüber reflektiert, ob das nicht doch völlig irre ist, dieses System des Kanuns und was ihm der Doc an den Kopf geschmissen hat.

5. Interessant die Erklärung, dass andere Bergvölker die Berge den Göttern überließen, während die Nordalbaner gezwungen sind, ihr Leben in den Bergen direkt zu fristen und deshalb haben sie so etwas wie einen Halbgott geschaffen, den Gast (wobei mir vorkommt, dass beim Gast auch wieder nur an Männer gedacht wird, denn hallo- wenn eine Frau als Gast vergew...wird, ist das doch eigentlich das Schlimmste, was passieren kann)

6. Sehr schön fand ich auch, wie durch diesen Verwalter Mark klar gemacht wird, dass die Blutrache auch eine äußerst lukrative Sache war und es allein schon deshalb ein großes Interesse daran gab, das alles aufrechtzuerhalten. So wie jetzt der Kanun vorgeschoben wird, wenn in Wirklichkeit was Kriminelles dahintersteht(stand hinten in den Erklärungen). Mark erstellte sogar Geschäftsprognosen für seinen Dienstherren, also wie sich der Umsatz an Blutrachegeldern im nächsten Jahr weiter entwickeln wird- wie herrlich böse vom Autoren, das zu erwähnen, dass die das ganz kaltschnäuzig als Geschäftszweig behandelt haben.

7. Warum sich der Kanun so lange halten konnte- ok, wenn man überlegt, dass sich diese Tradition hartnäckig gegenüber Fremdbesetzungen oder die Islamisierung gehalten hat oder gegen Versuche, eine staatliche Verwaltung dort zu etablieren, versteht man es schon ein winziges kleines bisschen besser. Die waren da oben so abgeschieden, dass sie eben der Meinung waren, manche Dinge regelt man besser unter sich. Nur, was das für irrwitzige Ausmaße angenommen hat, ist unglaublich. Dass Männer ins Blut kamen, nur weil ein Gast, der noch nicht mal im Haus drin war, den keiner kannte, etwas bestimmtes gerufen oder geklopft hat, ist schon heftig.      

8. Wurde irgendwas durch den Kanun verhindert? nein, es wurde trotzdem gemordet, außerehelich geschwängert und vergew...tigt. Also völliger Blödsinn.

9. Arbria, das hab ich mich auch gefragt, ob Gjorgs Mörder den Hinweis auf die Kreuzung gegeben hat, weil er im Sterben noch diese Kuh vor sich sah.

Fazit: Ich hätte es bereut, wenn ich es nicht gelesen hätte, denn es gab unglaublich spannende Einblicke in eine Welt, von der man vor 50 Jahren noch keine Ahnung hatte.





Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen. Oscar Wilde

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Karla
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New PostErstellt: 20.04.11, 23:02  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

Eigentlich wollte ich völlig abschließen mit diesem Thema. Aber nun ...

Ja, wie das mit der schwarzen Kuh war und was es zu bedeuten hat, bin ich mir nicht schlüssig. Laut Buch ist Gjorg ja gelaufen oder schnell gegangen um zu der bewussten Kreuzung zu gelangen.

1. Es ist schon sehr abstrakt, wenn sonst alles lt. Kanun Auge um Auge geregelt wird ohne List anzuwenden und zudem nicht gelogen werden darf. (Der Mann sagte, seine Schutzfrist wäre schon X Tage abgelaufen usw....) Nun soll so ein Mann mit gezücktem Gewehr und Kuh an der Leine hinter Gjorg herlaufen? Ich weiß nicht.

2. Wer schon mal eine Kuh getrieben hat oder zugeschaut hat, weiß wie schwierig es ist, diese für längere Zeit "auf Trapp" zu halten.

3. Eine schnell laufende Kuh hört man sofort. So eine Kuh wiegt ja so einiges. D.h. Gjorg hätte den Angreifer gehört. Zudem wurde immer beschrieben, dass die Umgebung steinig war. Selbst eine langsame Kuh müsste man hören.

Ich bin da echt ratlos zu diesem Punkt. Evtl. könnte der Mann mit der Kuh jemanden auf Sichtweite ein Zeichen gegeben haben....
Die einzige Stelle, die ich nicht verstanden habe.




Nehmen Sie die Menschen wie sie sind, andere gibts nicht.
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bardha77
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Ich habe das Forum gefunden...: ...durch Suchmaschine

New PostErstellt: 20.04.11, 23:19  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

.....ich hatte / hab leider auch nicht viel Zeit- aber wo ihr grad so schoen über die Kuh redet, da bring ich mich auch nochmal mit ein..

Also,ich war so nett am lesen und aufeinmal lag Gjorg am Boden..Ich dacht - hae hab ich jetzt was verpasst, nicht verstanden od. ueberlesen??? Nochmal gelesen- dann hab ich es so verstanden wie Arbria..( da er ja die Beine der Kuh sah )..dann nochmal gelesen und immer noch nicht mehr od. besser verstanden..Meine Meinung war bisher- der Typ ( mit der Kuh ) hat ihn " veraeppelt "und darauf gewartet das die Schutzfrist von Gjorg verstreicht- dann ist er ihm nachgegangen hat ihn gerufen und umgebracht...( ist jetzt aber auch schon wieder n paar Tage hin, das ich das Buch gelesen hab..und hoffe ihr erkennt noch irgendeinen Zusammenhang )

Ich bin auch froh , das Buch nochmal gelesen zu haben- er war schon lang her bei mir und ich konnt mich an fast gar nichts mehr erinnern- nun denk ich,bleibt es n bissel mehr in Erinnerung.
Mir hat der Schreibstil , und auch das Thema gut gefallen, wenn ich endlich mal Zeit hatte , hat es sich gut gelesen und ich war traurig , das Buch zur Seite zu legen..( obwohl es so auch schoen spannnend war )

Von mir ueberings auch nochmal ein " dickes SORRY " ich war nicht so aktiv , wie ich es mir vorgenommen hatte, der Maerz/ April waren wohl nicht nur fuer Gjorg zerrissen...

Danke fuer alle Beitraege / Zusammenfassungen und Gedankengaenge, fuer alle die sich n paar Minuten od. laenger  Zeit genommen haben.


ich hoffe wir sehen/ schreiben uns beim naechsten Buch wieder ( @Ajshe es muss ja nicht nur Kadare sein... )


lg Bardha







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Arbria
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New PostErstellt: 12.05.11, 19:53  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

Möchte abschliessend noch sagen das wenn ich eure Beiträge zu dem Buch nicht gelesen hätte ich wohl einiges nicht verstanden oder mal genauer darüber nachgedacht hätte, also ein dickes DANKE an euch

Obwohl mich das Buch ja nicht so überzeugt hatte bin ich dennoch froh es gelesen zu haben. 

Beim nächsten Buch bin auch gerne wieder dabei, wenn es denn ein nächstes geben wird denn sooooo dolle war die resonanz hier ja nicht  schade eigentlich wo wir doch das Forum ein wenig in schwung bringen wollten




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Latifa
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New PostErstellt: 07.06.11, 11:00  Betreff: Im Gespräch: Ismail Kadare  drucken  weiterempfehlen

Glauben Sie noch an die Nation, Herr Kadare?

Paris, Boulevard Saint Michel, ein mondänes Gebäude im Stil des Barons Haussmann. Ismail Kadare blickt aus dem Fenster, hinaus auf den Jardin du Luxembourg, in den er jeden Morgen flieht, um nachzudenken.

Die Heimat beherbergt Patrioten - und Patrioten gibt es, bevor eine Nation geboren wird. Die Patrioten eint Kultur und Sprache, es gibt Einverständnis darüber, was die Nation einmal sein könnte und sollte. Die albanischen Patrioten hatten sich, bevor es Albanien gab, die Marseillaise als Hymne ausgesucht. Sie war das Symbol für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Als Modell für ein Staatswesen galt die Schweiz. Warum? Weil sich dort Leute zusammengetan hatten, die in drei unterschiedlichen Sprachen redeten. Das hat die Albaner beeindruckt. Die Nation ist ein Gebilde mit Grenzen. Die Heimat kennt keine Grenzen, sie reist mit, wenn der Patriot das Land verlassen muss.

Hat Heimat demnach eher mit Gefühl als mit Geographie zu tun?

Sie hat etwas mit Patrioten und Patriotismus zu tun . . .

In der deutschen Sprache wird das bisweilen mit „Vaterlandsliebe“ übersetzt.

Also mit Emotionen. Ihr deutscher Begriff Heimat weist aber, glaube ich, auch auf Kultur hin und auf die von ihr getragenen Traditionen. Sie hat nichts zu tun mit Chauvinismus oder gar Rassismus, mit dem die Faschisten sie der Zerstörung preisgaben. Die Begriffe Patriotismus und Heimat sind zu unterscheiden von dem des Nationalismus.

Der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll sagte sinngemäß: „Meine Sprache ist meine Heimat.“ Wenn in Bölls Bekenntnis das Wort „Heimat“ durch den Begriff „Nation“ ersetzt würde, ergäbe das noch einen Sinn?

Ich kann Bölls Aussage nur unterstreichen. Aber was er gesagt hat, ist für einen Schriftsteller normal. Zumal, wenn er - wie ich - in einer Diktatur leben musste. Ich war ein normaler Schriftsteller in einem anomalen Land. In der Diktatur bleibt dem Dichter als Heimat tatsächlich nur die Sprache. Das hat dazu geführt, dass wir viel gelesen haben. Zu viel. Die Realität verschwand hinter den Büchern.

Was ist nun die Nation für einen Mann vom Balkan? Beherbergt die Nation die Heimat?

Normalerweise sollte niemand mit einem Mann vom Balkan über den Begriff der Nation reden. Das führt automatisch zu Missverständnissen. Wir alle auf dem Balkan - Kroaten, Serben, Bosnier, Albaner - hatten immer eine Heimat, eine Nation hatten wir nicht. Das Osmanische Imperium sah den Status Nation für uns nicht vor. Das war verboten. Das Konzept des Osmanischen Reiches war die Vorherrschaft des Islam, es war sozusagen ein internationalistisches Konzept auf Religionsbasis. Als die Türken abziehen mussten, kamen die Kommunisten. Auch der Kommunismus ist kein nationales Konzept, sondern ein internationales. Unter Enver Hodscha sprachen wir nicht von der albanischen Nation, sondern wir waren Teil der kommunistischen Internationalen. Was die Leute nach dem Fall Hodschas verwechselten, waren die Begriffe Freiheit und Nation. Die gewonnene Freiheit hat sich nach Befreiung und Nationwerdung zum Teil in üblen Formen ausgedrückt. Uns ging es wie einem Menschen mit schlimmer Kindheit: In dem Moment, in dem er erwachsen, also frei wird, hat er sich vielleicht zu einer bösartigen Kreatur verformt. Bei uns in Albanien überlagern sich im Moment immer noch Gutes und Schlechtes.

Was die Albaner unter anderem bis heute eint, ist die Vernachlässigung der Religionszugehörigkeit. Nicht nur, weil Hodschas Albanien dreißig Jahre lang der einzige absolut religionsfreihe Staat der Welt war, sondern weil die Frage schon vorher, auch unter der Türkenherrschaft, keine Rolle gespielt hatte für die albanische Identität. Gilt das heute noch?

Ja. Das ist etwas, auf das wir wirklich stolz sein können. Es ist in der Tat ein Modell, an dem sich andere Nationen ein Beispiel nehmen könnten. Wir haben Muslime, Orthodoxe und Katholiken. Wir hatten bis vor einigen Jahrzehnten auch noch Juden - die wir übrigens, im Gegensatz zu vielen anderen Völkern Europas, beschützt und in Sicherheit gebracht haben vor den nationalsozialistischen Häschern. Für unser Zusammenleben haben diese Religionszugehörigkeiten absolut keine Rolle gespielt. Ich selbst entstamme einer Familie die sich dem Derwisch-Orden der Bektaschi zurechnete - für mein soziales und kulturelles Leben ist das immer unwichtig gewesen.

Gibt es Versuche, dieses wertvolle Kulturgut des von Religionszugehörigkeit unbelasteten Miteinander, die religiöse Toleranz also, zu stören oder sogar zu zerstören?

Es gibt Fundamentalisten, die uns in diese Richtung lenken wollen. Von islamischer und von christlicher Seite. Auch aus dem Ausland kommen zerstörerische Impulse. Bisher sind sie ohne Folgen geblieben. Die Albaner haben andere Probleme. Sie wollen Geld verdienen, und zwar möglichst schnell. Sie sind zu pragmatisch, um sich für den sogenannten Kampf der Kulturen missbrauchen zu lassen.

Die Serben lassen immer wieder wissen, dass sie als orthodoxe Christen ganz allein gegen die osmanische Herrschaft und später auch gegen die deutschen Besatzer gekämpft hätten.

Was Sie da beschreiben, ist ein gefährlicher Mythos, ein Dämon. Wir dürfen diesem Revisionismus nicht die Tür öffnen. Alle Balkanvölker haben gemeinsam gegen die Türken gekämpft. Diese Tatsache ist wichtig für unser nachbarschaftliches Zusammenleben.

Dennoch ist es geschichtliche Tatsache, dass albanische Aristokraten den Türken als Gouverneure auf dem Balkan gedient haben. Das bekannteste Beispiel ist Ali Pascha, der den gesamten Epiros - das heutige Südalbanien und der westliche Teil Nordgriechenlands - für die Türken verwaltet und unterdrückt hat. Und viele Bosnier sind zum Islam übergetreten.

Wir müssen anerkennen, dass es Flecken auf unserer historischen Weste gibt. Einige haben mit dem Imperium geflirtet, Opportunisten gab es viele. Aber all das reicht nicht für einen Revisionismus, der das friedliche Zusammenleben auf dem Balkan vergiften würde. Unsere Kultur basiert auf einem gemeinsamen Substrat. Sie wird von der europäischen Renaissance und der Aufklärung dominiert - die Muslime waren in unserem Land ebenso aufgeklärt, wie es die Christen waren.

Nach Enver Hodschas Tod 1985 füllte von 1990 bis 1992 zunächst eine sogenannte demokratische Revolution und 1997 sogar ein Bürgerkrieg das von den jeweiligen Machthabern hinterlassene Machtvakuum. Danach beruhigte sich das Land und fand zu einer echten, wenn auch von Europa aus gesehen zerbrechlichen, weil in weiten Bereichen von Korruption bedrohten parlamentarisch-demokratischen Staatsform. Dennoch verließen vor allem junge Menschen und ein großer Teil der Intelligenz ihre Heimat. Sehen Sie Parallelen zu dem, was jetzt in den arabischen, den nordafrikanischen Ländern passiert?

So wie es in Albanien ein Fehler war, das Land zu verlassen, so ist es jetzt auch in Ägypten, Tunesien oder Algerien ein Fehler, das Land zu verlassen, wenn die Chance zur Veränderung besteht. Die jungen Frauen und Männer wurden bei uns gebraucht, und sie werden jetzt in ihrer nordafrikanischen Heimat gebraucht, um beim Wiederaufbau ihres Landes zu helfen.

Warum haben so viele Albaner das Land verlassen, als Hodscha starb und noch danach, als sich nach der Revolution doch alles zum Besseren zu wenden schien? Sie selbst sind auch im Oktober 1990 mit Ihrer Familie nach Paris geflohen und haben dort nicht nur Asyl gefunden, sondern sind sogar Mitglied der Académie Française geworden.

Ich musste meine Heimat für einige Jahre verlassen, weil mein Leben bedroht war - und damit auch das Leben meiner Familie. Ich hatte unter einem der Hodscha-Nachfolger, Ramiz Alia, die schleunige Demokratisierung Albaniens gefordert. Das hat jenen, die daran nicht interessiert waren, nicht gefallen. Meine Flucht diente dem nackten Überleben. Die große Mehrheit jener jungen Männer, die dem Land in den neunziger Jahren und später den Rücken kehrten, wollte nur so schnell wie möglich Geld verdienen, viel Geld. Deshalb gingen sie zunächst in jene Nachbarländer, wo das einfach schien: nach Griechenland beispielsweise. Aber wie ich schon gesagt habe: Es war ein Fehler, aus Albanien zu fliehen und den Aufbau jenen zu überlassen, die ihre Heimat mehr als Beute denn als zu schützendes Gut betrachten.

Wie erging es den ins Ausland geflohenen jungen Männern, die hierzulande gerne Wirtschaftsflüchtlinge oder - von Wohlwollenden - Armutsflüchtlinge genannt werden?

Wir schätzen, dass allein in Griechenland inzwischen fast eine Million Albaner arbeiten. Sie sind dort - im Gegensatz zu den später aus den osteuropäischen Staaten oder aus Afghanistan und Pakistan, seit einigen Monaten auch aus Nordafrika gekommenen Menschen - meist keine Illegalen mehr. Viele haben sich inzwischen eingerichtet, ein kleines Unternehmen und Familien gegründet, vielleicht sogar ein Haus gebaut. Griechen sind sie deshalb nicht geworden. Sie bleiben Albaner und werden von den Einheimischen auch als solche behandelt. Ich weiß, dass die Griechen meine Bücher lesen, ich bin dort vermutlich ein angesehener Autor. Das hat die Mehrheit der Griechen leider nicht davon abgehalten, sich uns Albanern gegenüber als Rassisten aufzuführen.

Einer Ihrer Schützlinge, der Lyriker und Literaturprofessor Agron Tufa aus Tirana, hat einmal erwähnt, dass sich schon zu Hodschas Zeiten, als man noch in Moskau und nicht in Mailand oder Florenz studierte, ein Minderwertigkeitskomplex breitgemacht hatte. Er sagt, dass die jungen Leute, die heute aus Athen, Rom oder gar den Vereinigten Staaten zurückkommen, um ihre Familie in Tirana zu besuchen, sich offenbar schämen, Albaner zu sein. Er habe mit Studenten zu tun gehabt, die sich scheuten, ihre albanische Muttersprache zu sprechen.

Das kann ich aus eigener Erfahrung nicht bestätigen. Wenn Tufa das sagt, wird aber etwas dran sein.

Sie selbst sind in Paris damals nicht nur freundlich, sondern mit Enthusiasmus aufgenommen worden. Auch dank Ihres brillanten Übersetzers, des mehrsprachigen Diplomaten und Politikers Jusuf Vrioni, wurden Sie von Frankreich aus zu einem Weltstar der Literatur. In Deutschland war es schwieriger, oder?

Ich hatte Probleme, in Deutschland einen Verleger zu finden. Man hat die Albaner bei Ihnen wohl nicht so ernst genommen, wie die Franzosen es taten. Schließlich nahm man mich in der Schweiz auf, bei dem sehr renommierten Ammann Verlag in Zürich. Der hat, wie Sie wissen, vor einiger Zeit aufgegeben, sein Programm wird jetzt vom deutschen Verlag S. Fischer fortgeführt. So bin ich nun doch noch in Deutschland gelandet.

Nach Ihrer Flucht hat es fast ein Jahrzehnt gedauert, bis Sie wieder nach Hause konnten. Sie sind 1999 nach Tirana zurückgekehrt und wohnen nun auch dort. Sie mischen sich in politische Diskussionen ein, treten im Fernsehen auf, schreiben Zeitungsartikel und unterstützen junge Schriftsteller. Haben Sie also Ihre Heimat wiedergefunden? Trotz Korruption und Mafia?

Ich war Albaner, ich bin Albaner, und ich werde es bis zu meinem Tod sein. Ich habe zwar zwei Pässe und wohne gleichermaßen in Paris wie in Tirana. Das ändert aber nichts daran, dass ich nie etwas anderes als ein Albaner war. Sie haben ja meine Bücher gelesen - in der Literatur kann man nicht betrügen. Ich hoffe, dass wir der äußerst aggressiven ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung, die wir in den vergangenen Jahren in unserem Land erlebt haben, etwas entgegensetzen können, das stärker ist als Geld. Das gilt auch für jene arabischen Länder, in denen die Menschen revoltieren.

Sie brauchen die Unterstützung Europas, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Die jungen Leute dort müssen sich aber eins vor Augen halten: Menschen neigen, wenn sie mit bedrohlichen Entwicklungen konfrontiert sind, zu übereilten Entschlüssen und stürzen dann, obwohl sich die Dinge schon zum Besseren zu verändern beginnen, doch noch in den Abgrund.

http://www.faz.net/artikel/C30437/im-gespraech-ismail-kadare-glauben-sie-noch-an-die-nation-herr-kadare-30430661.html





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Osmini
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New PostErstellt: 07.06.11, 22:53  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

Vielen, vielen Dank für diesen Beitrag. Für mich war das Interview megainteressant.

Mir stellt sich nur die Frage, ob Kadare eine von vielen Albanern geteilte Meinung vertritt, oder ob er als Intellektueller anders denkt als die Mehrheit seiner Landsleute??


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New PostErstellt: 17.01.12, 00:34  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

Ganz schön peinlich, wenn ich nun bedenke, dass selbst Dein letzter Beitrag, Osmini, schon mehr als ein halbes Jahr her ist und ich noch immer nicht weitergelesen habe. Ich schäme mich dafür sehr. Es tut mir noch immer schrecklich leid. Und bevor ich es mit weiteren Ausflüchten versuche, sage ich dazu lieber vorerst gar nichts mehr, bis ich es tatsächlich gelesen habe...sofern ich jemals dazu komme, ich faule Socke! Ich gehe übrigens schon freiwillig in die Ecke...*schluchz*


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genta_hh
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New PostErstellt: 06.03.12, 19:15  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

heyy ihr lieben ich überlege schon sehr lange ob ich das buch kaufen soll weil bei den bewertungen (bei amazon war das glaube ich) einige schlechte meinungen darüber waren... hab jetzt bei euch nicht weiter geguckt weil ich nicht zu viel erfahren wollte was dort genau alles steht deswegen meine frage an die leute die es gelesen haben könnt ihr das buch weiter empfehlen oder eher nicht????



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Osmini
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New PostErstellt: 06.03.12, 22:31  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

Eindeutig JA, wenn du Bücher mit gedämpfter, etwas düsterer Stimmung magst. Ein klein wenig Kenntnisse über die Kultur wären auch vorteilhaft.

Aber fairerweise muss man hinzufügen, nicht jede hier konnte mit dem Buch etwas anfangen. Das Buch gibt es übrigens in vielen öffentlichen Büchereien.




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Latifa
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New PostErstellt: 07.03.12, 06:22  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

Ich empfehle es auch, ich hatte es mir "schwerer verdaulich" vorgestellt, aber ich wollte unbedingt wissen, wie es weiter geht und hatte es dann relativ schnell durch.



Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.
Oscar Wilde

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genta_hh
Küken


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New PostErstellt: 07.03.12, 17:29  Betreff: Re: Ismail Kadare - "Der zerrissene April"  drucken  weiterempfehlen

in meiner lieblings bücherei gibt es das leider nicht  aber danke euch beiden für eure antwort ich werde mir das dann wohl auch die kommenden tage bestellen und das beste daran ist wenn es dinge gibt die ich nicht ganz verstanden habe dann kann ich mir am ende eure beiträge dazu durch lesen



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